Herzflimmern
Sie trug immer Verbände, obwohl ihre Hände völlig verheilt waren, denn »Verbände können die Leute ertragen«, wie sie Mickey am Flughafen erklärte, »auch wenn sie noch so groß und unförmig sind. Aber deformiertes Fleisch ist grauenerregend.«
Die Stewardeß, die sie während des Flugs betreut hatte, begleitete sie in Los Angeles durch den Zoll; danach nahmen Mickey und Harrison sie in Empfang und brachten sie in ihr Haus. Harrison, der ihr mit großer Herzlichkeit entgegengekommen war, hatte sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen, um Mickey und Sondra, die im Wohnzimmer saßen, Gelegenheit zu geben, langsam die alte Vertrautheit wiederzufinden.
»Ich kann ganz gut ohne Hilfe essen, aber am liebsten bin ich dabei allein. Ich kleckere fürchterlich«, sagte Sondra, während sie einen Becher zwischen die beiden bandagierten Hände klemmte und ihn vorsichtig zum Mund führte. »Aber wenn ich mich waschen und anziehen oder auf die Toilette gehen muß, könnte ich manchmal verrückt werden. Ich bin so hilflos wie ein Säugling. Das ist der Grund, weshalb ich mich entschlossen habe, es mit einer Operation zu versuchen. Ich möchte nicht ständig anderen zur Last fallen.« Sie stellte den Becher wieder auf den Tisch. »Dabei müßte ich eigentlich froh und dankbar sein, daß ich überhaupt noch Hände habe. In Nairobi wollten sie sie amputieren. Aber das habe ich nicht zugelassen.«
Mickey war wie versteinert. Sondras Geschichte war grauenhaft – den Mann und das ungeborene Kind verlieren, und dann noch diese schreckliche Verletzung.
»Vor allem möchte ich mich Roddys wegen operieren lassen. Als er meine Hände das erstemal sah, hat er laut geschrien. Ich mache ihm Angst. Er läßt sich nicht anfassen von mir. Ich glaube, er fühlt sich schuldig.«
Mickey drehte den Kopf zum Fenster und sah in den Regen hinaus.
»Die Infektion war das Schlimmste«, fuhr Sondra fort »Die Ärzte in Nairobi haben wirklich großartige Arbeit geleistet. Sie ließen mich nicht sterben, obwohl ich darum gebettelt habe. Als ich dann langsam wieder zu mir kam und an Roddy dachte, entschied ich mich doch für das Leben. Die Ärzte versuchten es mit Hautverpflanzungen an meinen Händen; als das nicht klappte, wollten sie sie amputieren.«
Sondra beugte sich vor und griff nach ihrem Becher. Aber dann überlegte sie es sich anders und lehnte sich wieder zurück. Mickey wäre am liebsten aufgsprungen, um den Becher für sie zu heben und ihn ihr an den Mund zu führen. Sie wußte nicht, was sie sagen sollte. Sondra war ihre älteste {305} Freundin, der erste Mensch, der sie so akzeptiert hatte, wie sie gewesen war. Aber Sondra war auch eine Fremde, die ihr Angst machte, und Mickey fiel nichts ein, das sie ihr hätte sagen können.
»Sam Penrod ist einer der besten Spezialisten in den Staaten«, bemerkte sie schließlich.
Sondra hob den Kopf und sah sie an. »Aber du wirst doch auch dabei sein?«
»Natürlich. Ich besuche dich jeden Tag.«
»Ich meine, bei der Operation.«
»Da muß ich erst mit Sam sprechen.«
Sondra nickte.
»Er ist wirklich sehr gut«, versicherte Mickey hastig. »Ich habe selber gesehen, was er fertigbringt.«
Wieder nickte Sondra.
Zum erstenmal wagte Mickey, Sondras Hände direkt anzusehen. Schwer und unförmig lagen sie in Sondras Schoß, eingebunden von den Ellenbogen bis zu den Fingerspitzen. Mickeys Beunruhigung stieg. Was verbarg sich unter den dicken Verbänden? Was für grauenhafte Verkrüppelungen versteckte Sondra vor den Menschen?
»Was hast du vor?« fragte Mickey unvermittelt. »Hinterher, meine ich. Gehst du zurück auf die Missionsstation?«
»Ja«, antwortete Sondra mit Entschiedenheit. »Da gehöre ich hin. Roddy ist dort. Und auch Derry ist noch dort. Darum habe ich bis jetzt meinen Eltern nicht von meinen Verletzungen geschrieben. Sie würden darauf bestehen, daß wir nach Phoenix kommen, aber ich könnte es nicht aushalten, wie eine Invalidin behandelt zu werden. Ich möchte weiterarbeiten, Mickey.« Sondra beugte sich vor und sagte mit Nachdruck: »Ich will meinen Beruf wieder ausüben.«
Das Rauschen des Frühjahrsregen draußen wurde stärker. Im offenen Kamin barst knackend ein Holzscheit.
Sondra rutschte zur Sesselkante vor. Ihre Stimme war leidenschaftlich. »Mickey«, sagte sie. »Derry war mein Leben. Er war alles, was ich mir je gewünscht habe. Ich war sehr glücklich mit ihm. Bei ihm war ich zu Hause. Es gibt kein Mittel, das meinen Schmerz lindern kann. Alles in mir
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