Herzflimmern
Uhr gesehen hatte: Vor zwei Stunden erst hatte sie angefangen und lag schon zurück.
Als sie eben am Schwesternzimmer vorübergekommen war, hatte ihr der Duft frisch gekochten Kaffees in die Nase geweht, und sie war sich des hohlen Gefühls in ihrem Magen bewußt geworden. Am Abend vorher war sie bis nach Mitternacht in der Notaufnahme im Dienst gewesen, war dann gar nicht erst nach Hause gegangen, sondern hatte statt dessen in einem Untersuchungszimmer geschlafen. Bei Morgengrauen war sie schon wieder auf den Beinen gewesen, hatte in der Schwesterngarderobe der Chirurgie geduscht und war wieder in die Notaufnahme hinuntergeflitzt, um die nächste harte Achtzehn-Stunden-Schicht zu beginnen. Sie überlegte gerade, wann sie das letztemal gegessen hatte – ein Stück Kuchen, das sie am Mittag des vergangenen Tages hastig hinuntergeschlungen hatte –, und fragte sich, wann sie das nächstemal zum Essen kommen würde, als sie gegen den jungen Mann prallte und ihn förmlich umriß.
»Oh!« rief sie erschrocken. »Entschuldigen Sie!«
Er taumelte ein paar Schritte nach rückwärts und hatte Mühe die große Filmkamera festzuhalten, die er auf der Schulter trug.
»Meine Schuld«, erwiderte er, als er wieder sicher stand. »Ich hab nicht aufgepaßt.«
»Sie haben sich hoffentlich nicht wehgetan?«
Er lachte und schwang die Kamera von der Schulter. »Ich werd’s überleben. Berufsrisiko.«
Sie sah von ihm zu dem jungen Mann, der mit einer großen schwarzen Tasche über der Schulter hinter ihm stand.
»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
»Nein, nein, wir kommen schon zurecht, vielen Dank. Lassen Sie sich von uns nicht aufhalten.«
{84}
Mickey war auf dem Weg zu ihrem nächsten Patienten gewesen. Es war acht Uhr an einem schönen Oktobermorgen, und in der Notaufnahme des St. Catherine’s Krankenhauses ging es noch ziemlich ruhig zu. Aber bald, das wußte Mickey aus Erfahrung, würde es chaotisch werden.
»Sind Sie von der Zeitung?«
Der Mann mit der Kamera schüttelte den Kopf. »Ach«, sagte er erstaunt, »Sie wissen nicht Bescheid. Das tut mir leid. Man sagte mir, das gesamte Krankenhauspersonal wäre unterrichtet.« Er bot ihr die Hand. »Jonathan Archer. Und das ist Sam, mein Assistent.«
Etwas verwundert gab Mickey ihm die Hand und nickte dem Assistenten zu. »Ich bin trotzdem noch im unklaren«, sagte sie. »Wer sind Sie denn und was tun Sie hier?«
»Jonathan Archer«, sagte er wieder, als müßte sie den Namen kennen und als wäre damit alles erklärt. »Wir machen einen Film.«
»Einen Film?«
»Ich dachte wirklich, alle hier wüßten Bescheid.« Er musterte ihren weißen Kittel, das Stethoskop, die Krankenkarte in ihrer Hand.
»Gehören Sie hier zum Personal?«
»In gewisser Weise.«
Mickey rang mit dem Impuls weiterzulaufen. Seit sie vor einem Jahr ihre klinische Ausbildung begonnen hatte, war sie es gewöhnt, ständig auf Trab zu sein und wenn möglich, drei Dinge auf einmal zu tun. Die Schichtarbeit im vierten Jahr ließ einem kaum Zeit, eine Tasse Kaffee hinunterzuschütten, geschweige denn herumzustehen und mit einem wildfremden Menschen zu schwatzen. Aber sie war neugierig.
»Was für einen Film machen Sie denn?«
Jonathan Archer lächelte. »Es ist ein Dokumentarfilm. In den kommenden Wochen werden Sam und ich überall im Krankenhaus Aufnahmen machen, um die Ereignisse so einzufangen, wie sie tatsächlich ablaufen. Reines
cinema verité.
«
Mickey musterte ihn mit unverhohlenem Interesse. Jonathan Archer sah aus wie ein gewöhnlicher Arbeiter, der in die Notaufnahme gekommen war, um irgend etwas zu reparieren. Seine Blue Jeans war sauber, aber an vielen Stellen geflickt; das verwaschene T-Shirt spannte sich über den breiten Schultern, und das braune Haar hing ihm bis zu den Schultern hinunter. Mickey schätzte ihn auf Ende zwanzig.
Er seinerseits betrachtete sie mit seinen wachen blauen Augen und fand sie ungewöhnlich schön. Der lange, anmutige Hals, das blonde Haar, das streng zurückgenommen war, die hohen Wangenknochen, die schmale Nase – sie sah aus wie eine Primaballerina klassischer Schönheit.
{85}
»Und wem habe ich das Vergnügen zu verdanken, beinahe auf der Nase gelandet zu sein?«
»Ich bin Dr. Long.«
»Ach, Sie sind Ärztin.«
»Nein, nein. Ich bin Medizinstudentin. Im vierten Jahr. Wir haben nur Anweisung, uns den Patienten so vorzustellen, und das wird einem schnell zur Gewohnheit.« Sie lächelte entschuldigend. »Habe ich irgendwas verpatzt?
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