Herzflimmern
dem Flachbau im spanischen Stil, der Freizeitaktivitäten und gesellschaftlichen Veranstaltungen vorbehalten war.
Ein merkwürdiges Campus, schoß es ihr durch den Kopf, während sie am Glockenturm vorübereilte, ganz anders als alles, was sie gewohnt war. Wo waren die Klapptische der verschiedenen Studentenverbände mit ihren Werbeplakaten? Wo waren die Redner und Agitatoren? Was war aus Vietnam, Black Power und der Free-Speech-Bewegung geworden? Es war, als wäre sie über eine Zeitschwelle in die Vergangenheit eingetreten, in die verschlafenen Fünfzigerjahre, wo Studenten nur studierten und man die Professoren noch
Sir
nannte. Das Castillo Medical College war idyllisch, mit gepflegten Blumenbeeten und smaragdgrünen Rasenflächen, gepflasterten Wegen und plätschernden Springbrunnen, weißen Gebäuden mit roten Dächern und maurischen Bögen. Eine alte Schule mit Tradition; eine Schule, die förmlich nach Geld und konservativer Lebensart stank.
Welch ein Unterschied zu ihrer eigenen University of California in Santa Barbara, wo die Jungs die Bank of America in Brand gesteckt hatten. Wie sollte sie auf diesem verschlafenen Campus untertauchen? Sie vermißte das Geschiebe und Gedränge der Studenten, die Scharen von Radfahrern, die Pärchen und heiß diskutierenden Gruppen, die auf Rasenflächen und unter Bäumen lagerten. Sie hatten ihr die Möglichkeit geboten, sich zu verstecken und unsichtbar zu machen. Hier, stellte sie mit Erschrecken fest, gab es diese Möglichkeit nicht. Als Mickey sich um die Aufnahme im Castillo College beworben hatte, hatte sie keine Ahnung gehabt, daß es dort so geordnet und ruhig zuging. Hier würde sie auffallen; man würde sie bemerken.
Ob es nicht ein Fehler gewesen war, hierher zu kommen?
Endlich fand sie, was sie gesucht hatte: eine Damentoilette. Wie ein Wüstenwanderer, der eine Oase gesichtet hat, stürzte sie zum Waschbecken.
Immer waren die ersten Tage an einem neuen Ort eine Tortur für Mickey Long. Bis ihre neuen Gefährten sich an ihr Gesicht gewöhnt hatten, mußte sie zuerst ihre verdutzten Blicke ertragen, dann ihre unverhohlene Neugier, dann das versteckte Mitleid, und zuletzt ihre Verlegenheit, wenn sie beim Anstarren ertappt wurden und ihr ungeschicktes Bemü {15} hen, so zu tun, als wäre ihnen gar nichts besonderes aufgefallen. Aus diesem Grund kleidete Mickey Long sich stets unauffällig, griff zu Grau- und Brauntönen, weil sie hoffte, dann nicht beachtet zu werden. Ihr wirksamster Schutz waren größere Menschenmengen.
Sie schob jetzt das seidige blonde Haar, das ihr weit ins Gesicht fiel, hinter die Ohren, schraubte das Make-up-Fläschchen auf und vollzog das Ritual. Als sie fertig war, das Haar ihr wieder wie ein Vorhang über die Wangen fiel, legte sie einen Hauch zartrosa Lippenstift auf. Sie hätte sich gern so kühn und auffallend geschminkt, wie viele andere Mädchen das taten, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen; aber mit ihrem Gesicht!
Sie trat aus dem Gebäude ins Freie und sah wieder auf ihren Lageplan. Es mußte auf dem Gelände doch mehr als eine Damentoilette geben! Sie beschloß, das Mittagessen im Speisesaal auszulassen und statt dessen sämtliche Damentoiletten auf dem Campus ausfindig zu machen und in ihren Plan einzutragen. Zielstrebig machte sie sich auf den Weg zur Rodriguez Hall, die hoch über dem Meer auf den kahlen Felsen von Palos Verdes stand.
Sondra stand noch lachend und schwatzend mit Shawn an der offenen Tür ihres Zimmers, als sie eine der anderen Studentinnen durch den Flur kommen sah, ein mausgraues Ding, das eine große Strohtasche wie einen Schild an ihre Brust gedrückt hielt. Das bißchen Gesicht, das zwischen dem weit nach vorn fallenden honigblonden Haar zu sehen war, war knallrot.
»Hallo«, sagte Sondra, als die junge Frau näher kam, und bemerkte, daß die Röte im Gesicht merkwürdig einseitig war. »Ich bin Sondra Mallone« und streckte ihre Hand aus.
»Hallo.« Mickey ergriff scheu Sondras schmale, aber kräftige Hand. »Ich bin Mickey Long.«
»Und das ist Shawn. Er wohnt ein paar Türen weiter.«
Shawn musterte Mickey mit einem kurzen, neugierigen Blick und wandte sich leicht verlegen ab.
Sondra flippte mit lebhafter Bewegung das lange schwarze Haar über ihre Schulter nach rückwärts. »Ich glaube, ich bin die letzte, die hier einzieht«, meinte sie. »Shawn hat mir netterweise mit dem Gepäck geholfen. Ich hab mal wieder viel zu viel eingepackt.«
Mickey stand unsicher im Flur und hob immer
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