Hesmats Flucht
das kleine Land und die sauberen Häuser mit dem warmen Licht in den Fenstern an ihnen vorbeizogen, suchte sein Onkel nach passenden Verstecken. Niedergeschlagen kam er nach einer halben Stunde zurück. Diese Züge waren anders. Es gab keine losen Bretter, keine Ecken und Nischen, in die sie sich zwängen konnten, keine Lücke, die sich als Versteck anbot. Sie hatten nichts mehr, was sie dem Schaffner anbieten konnten. Außerdem sah er nicht aus wie ein Mann, der Fremden half.
Im Speisewagen roch es nach Fleisch und frischem Brot, und als Hesmat sich die Reste eines Brotes von einem stehen gelassenen Teller nahm, senkte die Frau, die ihn beobachtet hatte, schweigend den Blick. Der Hunger war derselbe wie an jedem Tag der letzten Monate. Eingeschlossen in der Toilette, schlang er die trockenen Brotreste in sich hinein, stillte seinen Durst am viel zu kleinen Wasserhahn und suchte nach einem Versteck.
Er sah, wie die anderen die Toilette benutzten und ein rotes Licht anging, sobald sie die Tür von innen verschlossen. Es war die einzige Chance, die er hatte. Wenn er Glück hatte, würden sie die unversperrte Tür öffnen, einen Blick in die Toilette werfen und ihn hinter der Tür nicht sehen. Es war ein dummer Plan, aber der einzige, den er hatte.
Österreich war sechs Stunden klein. So klein wie früher ein Nachmittag mit seinen Freunden, in denen die Stunden verflogen. In Innsbruck stiegen sie aus. Der Bahnhof war leer, und nur gelegentlich hörten sie das Brüllen eines Betrunkenen, der sich mitten in der Nacht mit anderen stritt. In Traiskirchen hatte man sie vor den Banden gewarnt, die sich nachts in den Städten herumtrieben und manchmal Jagd auf Ausländer und Farbige machten. Die hier sahen nicht gefährlich aus und waren mit ihrem Rausch und einem betrunkenen Mädchen beschäftigt. Trotzdem setzten sie sich abseits in eine Ecke, die ihnen Schutz vor den hellen Scheinwerfern bot, und warteten auf den nächsten Zug.
Sogar hier am Bahnhof war dieses Land sauber. Es war das Erste, was Hesmat an Österreich aufgefallen war: Alles war geputzt, immer und zu jeder Zeit. Nirgends gab es Müll, Dreck oder streunende Hunde, die der frische Abfall anlockte. Hier gingen die Hunde an einer Leine, und er hatte die junge Frau für eine Verrückte gehalten, die die Scheiße ihres Hundes vor seinen Augen in eine kleine Plastiktüte gepackt hatte.
DAS ENDE DER FLUCHT
Beim ersten Versuch kam er nicht mal bis auf die Toilette. Die Beamten holten sie nur wenige Kilometer nach Innsbruck aus dem Zug. Sie landeten im Auffanglager in Götzens, wo sie zusammen mit fünf anderen Flüchtlingen für 200 Dollar ein Taxi nach Innsbruck organisierten. Auch der zweite Versuch, über die Grenze zu kommen, endete in jenem kalten Raum mit dem stets offenen Fenster am Brenner, dann wieder im Wagen nach Götzens. Beim dritten Mal hatte er bereits innerlich gejubelt.
Der Beamte hatte im Zug die Toilettentür kurz aufgemacht und wieder geschlossen. Es hatte geklappt! - Aber die Tür ging wieder auf und diesmal schaute er auch hinter die Tür.
»Bleib hier!«, sagte Christoph, der ihn jedes Mal, wenn er zurückkehrte, im Lager betreute. Trotzdem stieg er immer wieder in den Zug und wurde erwischt. Christoph nahm sich Zeit. Er war kein Beamter wie die anderen. »Es gibt viele Möglichkeiten«, sagte er auf Englisch, und Hesmats Onkel übersetzte.
»Er hat recht«, sagte sein Onkel, »du hast sehr viel Glück gehabt, dass du überhaupt noch am Leben bist.«
»Wir halten nichts von London, dort ist es sicher nicht besser«,
sagte Christoph. »Hier können wir dir helfen, hier bist du sicher.«
Sein Onkel verschwand, ohne sich zu verabschieden. Plötzlich war er weg. Vielleicht hatte er Angst gehabt, Hesmat von seinem Versuch zu erzählen; Angst davor, dass Hesmat ihn zurückhalten würde oder wieder mitwollte, ihn wieder behindern könnte. Niemand war überrascht, auch nicht Hesmat. Karim meldete sich noch einmal zwei Tage später kurz aus Italien. »Es wird alles gut«, sagte er, »ich werde dich holen, sobald ich in London bin und Geld habe.«
Hesmat hörte nichts mehr von ihm.
SOS-JUGENDWOHNHEIM TELFS, VIER JAHRE SPÄTER
Die Kälte hat in aufgeweckt und trotzdem schwitzt er.
Schon seit Langem kann Hesmat sich an keine Nacht mehr erinnern, in der er nicht mit klopfendem Herzen und schweißnasser Stirn aufgewacht wäre. Doch an seine Träume kann er sich nicht erinnern. Die Bilder, die ihn quälen, verschwinden ins Unbewusste, sobald er
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