Hesse-ABC
innerhalb dieses moddrigen
Europas.« Hesse dürfte diese Äußerung nicht bekannt gewesen
sein, sonst hätte er sich wohl kaum 1960 noch einmal so intensiv
auf den ihm in seiner Kälte fremden Dichter eingelassen. Da
schrieb Hesse in einer Besprechung der »Ausgewählten Briefe«
des inzwischen verstorbenen Benn, dies sei ihm ein »herzbewe-
gendes Buch« gewesen. Auch dessen von den eigenen so ver-
schiedenen Gedichte nennt er »herrlich«. Seine Charakterisierung
Benns bleibt durch Güte gültig: »Dieser Dichter hat ein überaus
schweres, hartes Leben gehabt, ein Leben der Arbeit und der Ar-
mut nicht nur in ökonomischen, nein auch im seelisch-geistigen
Bereiche. Wenig Glück und wenig Muße fand in diesem harten
Leben Platz, und wie der geplagte Arzt und Militärarzt in lebens-
langer Fron und Enge, so lebte der Mensch und Dichter auch see-
lisch in zu engem Raum... Man würde sich nicht wundern, träfe
man ihn in seinen Briefen als widerborstigen, verbitterten Eremi-
ten an. Aber nein, die Briefe zeigen ihn als einen trotz allem hu-
manen, der Liebe und Treue in hohem Maße fähigen, liebenswert
unbestechlichen Charakter. Der Nihilist wird, je mehr man ihn
kennenlernt, desto mehr zum Gentleman, der Dulder zum Helden.
Und für mich ergibt es aus der Lektüre der Briefe das Gut, das
Gute, daß ich künftig Benn werde lesen können ohne jedes biß-
chen Unbehagen, das mich früher dabei störte.«
Bern
In einem Billett zeigt Hermann Hesse seinen Freunden und Be-
kannten an: »Vom 15. September 1912 an werde ich nicht mehr in
Gaienhofen wohnen, sondern in Bern (Schweiz), Melschenbühl-
weg 26. (Post aus Deutschland und Österreich Auslandsporto!)«
Es ist also mehr als ein bloßer Umzug, es ist ein Fortgehen aus
Deutschland. Zwar keine Emigration, aber ein doch nicht ganz
zufälliges Sich-in-Distanz-Bringen zum wilhelminischen Deutschen
Reich, dessen borniert-militanter Nationalismus ihn, den passio-
nierten Kosmopoliten, abstößt. Die Schweiz, das ist nicht mehr
große, sondern kleine Politik, vor allem ist es die Bürgerrepublik
des geliebten Gottfried Keller.
Zu Bern hat Hesses Frau Maria ein intensives Verhältnis. Da die
Ehe immer unglücklicher wird, hofft er auf Besserung durch die
»schönste alte Stadt der Schweiz und ein Land voll Kraft und
Schönheit, rassiger üppiger Baumwuchs, tiefer Boden, gutes Was-
ser, nahe Berge«.
Hesse selbst sagt aber gleich, daß er nicht daran denkt, sein Va-
gabundenleben einzuschränken: »Bern ist die einzige Stadt, zu der
ich instinktiv einiges Vertrauen habe, und auf alle Fälle könnte
meine Frau, die es mit den Kindern und mir nicht immer leicht hat,
sich dort wohl fühlen. Für mich selbst wird ein wenig Vagabun-
dentum und Heimatlosigkeit immer dazugehören.«
In Bern hat Hesse einen Freund, den Maler Albert Welti. Auch dar-
um wählt er Bern. Als es dann aber soweit ist, mit seiner Familie
von Gaienhofen nach Bern aufzubrechen, sterben kurz hinterein-
ander Albert Welti und dessen Frau. Hesse reist nach Bern zur
Beerdigung und steht vor der Frage, ob er in das ihm zur Miete
angebotene Haus Weltis einziehen will. Hesse zögert: »Wir wehr-
ten uns innerlich gegen diese Nachfolgerschaft, es roch uns zu
sehr nach Tod, wir suchten nach einem anderen Unterkommen in
der Nähe Berns, aber es fand sich nichts, was uns gefallen hätte.«
Bis 1919, als seine Familie endgültig zerfällt, wird Hesse mit seiner
Frau Maria und den drei Söhnen in Bern wohnen. Während des
Ersten Weltkrieges arbeitet er hier bei dem Hilfsdienst für Kriegs-
gefangene der deutschen Gesandtschaft und organisiert einen
Buchversand für deutsche Kriegsgefangene. Von hier aus wird er
ins Tessin auf die Südseite der Alpen übersiedeln, den Norden,
seine Familie und die dunklen Kriegsschatten zurückzulassen ver-
suchen. In Montagnola soll aus dem allseits mit Alltäglichkeiten in
Anspruch genommenen Angestellten der Kriegsgefangenenfür-
sorge und zunehmend frustrierten Ehemann wieder ein freier
Künstler werden.
Bernoulli, Maria
Hesse hat sie Mia genannt. Das war Ausdruck von Sympathie, die
schnell unüberwindbarer Fremdheit wich. Am Ende wurde es so-
gar Haß. Neunzehn Jahre (von 1904 bis 1923) war Hermann Hesse
mit ihr verheiratet – zunehmend unglückliche Jahre. Kennenge-
lernt hatte er sie auf seiner zweiten Italienreise 1903. Tochter aus
großbürgerlichem Baseler Haus, emanzipiert, musisch begabt (sie
spielte sehr
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