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Hesse-ABC

Hesse-ABC

Titel: Hesse-ABC Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Decker
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Aber Hesse glaubt nicht
    mehr an den Sinn seines Schreibens. Da erscheint die ihn bewun-
    dernde Ninon wie ein Bote aus einer anderen, versunkenen Welt.
    Ninon ist von Hesses Zustand erschüttert und will die Verbindung
    intensivieren. Hesse ist abweisend, er hält sich für einen unmögli-
    chen Menschen, der nur zum einsamen Sonderling taugt. Aber
    Ninon schreibt aus Wien beharrlich weiter Briefe an ihn. Und ob-
    wohl es Hesse ausdrücklich nicht will, kommt sie im Frühjahr 1926
    nach Montagnola, wo sie einige Tage in einem Nebengebäude der
    Casa Camuzzi wohnt. Hesse hält sie weiter auf Distanz, und sie
    akzeptiert das als Recht des Dichters. Nach ihrer Abreise schreibt
    sie in einem Brief: »Ich weiß, daß er mich lieb hat und daß er
    Furcht davor hat, sein Leben an das meine zu binden, das kein
    Leben, sondern ein Martyrium ist. Vielleicht überwindet er Angst
    und Zweifel und ruft mich. Vielleicht sehen wir uns niemals wie-
    der.« Fünf Jahre werden vergehen, bis sie – unter größtmöglicher
    Wahrung von Hesses Bedürfnis nach Ruhe und Alleinsein – zu-
    sammen in die ↑ Casa Rossa ziehen und heiraten.

    Dostojewski
    Für Hesse während des Ersten Weltkrieges eine Offenbarung.
    Welche Psychologie des Unbewußten! Aber auch – und vielleicht
    noch wichtiger – eine Vorwegnahme jener modernen Seelenzer-
    störung, die sich Zivilisation nennt: »... sein Werk wird von uns
    nicht als der Ausdruck hochgesteigerter Einsichten und Fertigkei-
    ten bewundert, nicht als die künstlerische Prägung einer uns im
    Grunde bekannten und geläufigen Welt, sondern wir empfinden es
    als prophetisch, als Vorausspiegelung einer Zersetzung und eines
    Chaos, von dem wir Europa seit einigen Jahren auch äußerlich
    ergriffen sehen.« (Aus »Gedanken zu Dostojewskis ↑› Idiot ‹«.) Diesem Chaos kann sich niemand entziehen, weil menschliche Ord-
    nung nicht ein Jenseits des Chaos, sondern seine lebbare Form
    bedeutet. Man kann es nur annehmen und mit ihm leben lernen.
    »Blick ins Chaos« bedeutet also auch: Bruch mit den falschen Kon-
    tinuitäten der Tradition, die sich als untauglich erwiesen haben
    und sich öffnen für das unbekannte Neue. Das Chaos der jetzigen
    Zivilisation wird zum Humus einer neuen Ordnung. So – ganz
    nietzscheanisch: Umwertung aller Werte – sieht es Hesse im Jahre
    1919.

    E
    Editionspraxis
    Hesse sperrte sich – im Einvernehmen mit Peter Suhrkamp – allen
    Versuchen, populäre »Volksausgaben« seiner Werke herauszuge-
    ben, wie es früh schon die Absicht des Verlags-Juniors und über
    Hesse promovierenden Lektors Siegfried Unseld war. Hesses
    Selbstverständnis nach mußte man sich auf den wahren Leser,
    der das Buch sucht, beschränken. Bestimmte Einsichten, auch dar-
    in waren sich Hesse und Suhrkamp einig, müssen schlechte Ge-
    sellschaft meiden. Unseld aber sah das populäre Moment in
    Hesses Werk, seine Tauglichkeit zum Bestseller-Autor. Der Sieges-
    zug der preiswerten Suhrkamp-Taschenbücher wird auch der Weg
    Hesses zum Auflagenmillionär. Eine Popularität, der Hesse jedoch
    wohl entschieden ablehnend gegenübergestanden hätte. Zwar
    hilft der kluge Kommentator Volker Michels über die Zumutung
    vieler sich hart an der Grenze zum Kunstgewerbe bewegenden
    brevierartigen Zusammenstellungen aus Hesses Werk hinweg –
    ein Unbehagen an dieser Ausgabenpraxis bleibt jedoch. Die her-
    vorragende Werkausgabe (»Sämtliche Werke«, Hg. Volker Mi-
    chels), die der Verlag jetzt herausgibt, scheint alle diese
    editorischen Sünden wettmachen zu wollen – ist aber nur für ei-
    nen stattlichen Preis zu haben.

    Eigensinn
    Die eigenen Sinnfragen beständig jenseits der fertig daliegenden
    Antworten formulieren. In diesem Selbstgespräch des Suchenden
    liegt die anhaltende Faszination, die von Hesse ausgeht. Sie be-
    sitzt etwas Einladendes. Besonders jugendliche Leser reizt das
    offen Unfertige. Der Leser selbst wird zum Geburtshelfer von
    Kunst, Religion und Moral. Er hat auf ganz unmittelbare Weise teil
    am Verfertigen der Gedanken des Autors. Hierin liegt die Verfüh-
    rungskraft von Hesses Texten. Die Verführung hat einen Namen:
    »Eigensinn«. Aber Hesse ist auf sehr strenge Weise eigensinnig:
    »Tugend ist: Gehorsam. Die Frage ist nur, wem man gehorche.
    Nämlich auch der Eigensinn ist Gehorsam. Aber alle anderen, so
    sehr beliebten und belobten Tugenden sind Gehorsam gegen Ge-
    setze, welche von Menschen gegeben sind. Einzig der Eigensinn
    ist es, der nach diesen Gesetzen nicht

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