Hesse-ABC
fragt. Wer eigensinnig ist,
gehorcht einem anderen Gesetz, einem einzigen, unbedingt heili-
gen, dem Gesetz in sich selbst, dem ›Sinn‹ des ›Eigenen‹.« Das
Paradox: Hesse verteidigt gerade in seinen romantischen Motiven
vehement die aufklärerische Forderung nach der Autonomie des
Einzelnen. Alle seine Texte sind Bausteine eines großen unvollen-
deten Entwicklungsromans. Seine Leser wachsen mit ihm von
Selbstbehauptungsversuch zu Selbstbehauptungsversuch.
Einsiedler
Die Nähe Hesses zu zivilisationskritischen Denkern ist oft bemerkt
worden. Aber neben Rousseau und Tolstoi sind es auch Ralph
Waldo Emerson und Henry David Thoreau, in deren geistiger Nä-
he sich Hesse aufhält. Thoreau hat im Stile einer Robinsonade
eine alternative Programmschrift »Walden oder das Leben in den
Wäldern« verfaßt. Der Bericht eines, der auszog, die Zivilisation
hinter sich zurückzulassen und allein in der Wildnis zu leben. Hes-
se nimmt die Metapher des Einsiedlers auf – sie paßt zu ihm, und
er verteidigt sie gegen alle Anwürfe von Mode und Zeitgeist. Im
Einsiedler verbirgt sich der Außenseiter, der abseits stehende Be-
obachter, der durch seine bloße Existenz, die nichts Missionari-
sches hat, eine Alternative vorlebt: »Wenn ein Einsiedler nach
langen Jahren seine Klause verläßt und sich in eine Stadt und in
die Nähe der Menschen begibt, dann hat er meistens für sein Tun
vortreffliche Gründe anzuführen, das Ergebnis ist meist ein lächer-
liches. Der Eremit soll Eremit bleiben wie der Schuster Schuster.
Daß das Eremitentum kein Beruf sei oder ein minderwertiger,
ebenso wie das Betteln, ist eine europäische Mode-Meinung, wel-
che niemand ernst nehmen wird. Einsiedler ist ein Beruf, ebenso
wie Schuster, ebenso wie Bettler, ebenso wie Räuber, ebenso wie
Krieger, es ist ein viel älterer, wichtigerer, heiligerer Beruf als et-wa solche Pseudo-Berufe wie Gerichtsvollzieher, Professor der
Ästhetik und dergleichen. Und wenn ein Mensch aus seinem Be-
ruf, aus seiner Maske und Rolle herausfällt, so mag er dies aus
den begreiflichsten und liebenswürdigsten Gründen tun, es
kommt doch gewöhnlich nur eine Dummheit dabei heraus.«
Eiselein
Eine der schönsten und unbekanntesten Gerbersau-Erzählungen
Hesses aus dem »Camenzind«-Jahr 1903. Aber anders als in »Pe-
ter Camenzind« verzichtet Hesse hier auf jegliche Stilisierung. Es
herrscht bereits ein Unterm-Rad-Ton. Eine Versagergeschichte,
aber nicht an der feindlichen Umwelt, sondern an sich selbst.
Großen Illusionen folgt ein schmerzhafter Bodenaufschlag. Karl
Eugen Eiselein ist der Sohn des Gerbersauer Kolonialwarenhänd-
lers Schorsch Eiselein und als Musterschüler zu Höherem berufen.
Aber letztlich wird aus dem zwischenzeitlichen Dichter der Avant-
garde-Selbstzahler-Zeitschrift »Der Abgrund« doch wieder nur ein
Kolonialwarenhändler. Die Provinz ist stark und läßt ihre Kinder
ungern los. Erstaunlich mit welch unpathetisch-ironischem Ton
der junge Hesse diese Geschichte erzählt. Sie wird zur Gerbersau-
er Miniaturausgabe von Gottfried Kellers »Grünem Heinrich«. Die
Erfahrung, nicht zum Künstler berufen zu sein, sie ist schmerzhaft
– und auf befreiende Weise heilsam.
Ekel
Man kann auf sehr rational bestimmte Weise zu seiner Umgebung
auf Distanz gehen: aussprechbare Kritik dann. Aber auch der Kör-
per reagiert: Sartre hat über diese unbestimmte Sprache vor aller
Sprache ein Buch geschrieben: »Der Ekel«. Der ganze Körper rea-
giert mit einer sich bis zum Widerwillen steigernden Ablehnung:
Weltekel. Auch Hesse ist in seiner »Steppenwolf«-Zeit, Mitte der
zwanziger Jahre von diesem Weltekel, dem Gefühl der Sinnlosig-
keit allen Leidens, befallen: »Wenn ich sinnlos sage, so drücke ich
damit meine Stimmung in all den Tagen aus, an denen es mir
nicht gelingt, selber einen Sinn in der Sache zu finden, in meinen
Augenschmerzen, in meinem Lebensekel, in meinem Ekel gegen
meinen eigenen Beruf, in meinem Ehe-Unglück etc.«
Elisabeth
Viel bedichtete Jugendliebe Hesses – vor allem ihrer Unerreich-
barkeit wegen. Hesse begegnet ihr, als er im Herbst 1899 von
↑ Tübingen nach ↑ Basel übers iedelt. Dort verkehrt er in der Familie des mit den Eltern befreundeten Pfarrers Emmanuel La Roche.
Dessen Tochter Elisabeth wird für Hesse zur verklärten Liebe. In
den Elisabeth-Gedichten, im ↑ » Peter Camenzind« und in
↑ » Gertrud « stilisiert Hesse diese Liebe aus der
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