Hesse-ABC
KPdSU-Ideologie begab,
hat es aufgebracht: Klassisch werde, was eine aufstrebende Klas-
se hervorbringe, dekadent dagegen seien die Erzeugnisse einer
absteigenden Klasse. Eine Konsequenz der schematisch betriebe-
nen marxistischen Basis-Überbau-Dialektik. Die Klassenposition
bestimmt hier in letzter Konsequenz, was jemand denkt. Das
streicht dann die Autonomie des Einzelnen, für die die Aufklärung
einst stritt, einfach durch. Inbegriff allen Verfalls in der Kunst ist diesen selbsternannten Hütern der Klassik natürlich die
↑ Romantik . Die Kunst als Selbstzweck, nicht als Vehikel des Klas-senkampfes, das ist ihnen eine Naivität, die man vor sich selber
schützen müsse. Allein die Klassik sei ein lichter Hort der Ver-
nunft, Romantik aber ein dunkles Verlies der Unvernunft: geistiges
Mittelalter. Hesse entzieht sich mit ↑ Goethe, dem großen Grenz-
überwinder, diesem dogmatischen Streit, der wie aller Streit um
Abstraktionen unfruchtbar bleiben muß. Für Hesse als Zeitkritiker,
der er mit Leidenschaft ist, tritt Dekadenz vor allem aus einer
Technikentwicklung hervor, die jeglicher Sinnbefragung enthoben
zum kulturzerstörerischen Selbstläufer wird. Sie zeigt sich im In-
stinkt-Verlust für das Wertvolle und Wichtige im Leben. Ein Ver-
lust an Sinn erwächst daraus. Denn nicht die scheinbar großen,
sondern die kleinen, am Wegrand liegenden Dinge machen ein
Leben arm oder reich. In dem Maße wie wir sie sehen oder blind
an ihnen vorübergehen. Hesse notiert es in einem Brief an Ninon
Dolbin (1928): »Von all den Tausenden, die sich vier- bis fünfmal
im Jahr einen feinen Anzug schneidern lassen und sich mit Fach-
männern lange über die Neulackierung ihres Autos beraten, ist
kaum ein halbes Dutzend so wirklich reich und so auf das Schöne
versessen, daß sie auf die Idee kommen, nicht nur ein paar Zeit-
schriften und sich etwa einen Papagei oder ein paar Zierfische zu
halten, sondern auch bei einem Dichter eigenhändige Gedicht-
handschriften mit eigenhändigen farbigen Bildern zu bestellen.
[...] Die Reichen von heute sind entartet, selten kommt irgendeiner
auf irgendeine nette freundliche Idee, die meisten kommen über-
haupt nie auf Ideen.«
Demian
Dichtungen seien keine Handgranaten, sie wirkten langsamer oder
gar nicht, schreibt Hugo Ball. Dennoch, der »Demian« war in sei-
ner Wirkung einer Handgranate ziemlich ähnlich.
Hesse veröffentlichte das kleine Buch unter dem Pseudonym Emil
Sinclair. Er erhielt dafür den Fontane-Preis für literarische Debü-
tanten. Natürlich kam dann doch heraus, wer der Autor war, und
Hesse gab den Preis zurück. Aber warum schrieb Hesse unter
Pseudonym? Um den Bruch kenntlich zu machen, den er vollzogen
hatte. Es ist der welthistorische Bruch, den Hesse im Ersten Welt-
krieg erkannt hatte. Das 19. Jahrhundert war endgültig vorbei,
auch seine Ästhetik. Das 20. Jahrhundert trat an als Traditions-
bruch. Der neue Universalismus der Technik zog stahlgewitter-
gleich herauf, als Materialschlacht mit bislang ungekannter
Zerstörungsenergie. Dahinter gab es kein Zurück mehr in die ver-
gleichsweise heile Welt des 19. Jahrhunderts.
Hesse will den äußeren Bruch des Weltkrieges innerlich nachvoll-
ziehen. Er weiß, er muß in seinem Schreiben diesen neuen Welt-
zustand sichtbar machen. Er spürt die Krise, in die er unbemerkt -
auch privat - hinübergeglitten war (die Ehe mit Maria Bernoulli
wird ihm immer unerträglicher) und drängt auf eine Entscheidung.
Zur inneren Vorbereitung darauf unterzieht er sich einer Psycho-
therapie. Dr. Lang, bei dem Hesse von Mai 1916 bis November
1917 mehr als sechzig Sitzungen absolviert, ist ein Schüler C. G.
Jungs. Der fünfunddreißigjährige Lang hat die Benediktinerschule
in Einsiedeln besucht und als Katholik ein ausgeprägtes Bewußt-
sein für schuldhaftes Handeln und dessen Niederschlag in seeli-
schen Existenzkrisen. In einer solchen Krise befindet sich Hesse
zweifellos. Aber hat er sie selbstverschuldet?, so fragt er sich nun.
Und wo liegt seine Schuld? Um diese Frage zu beantworten, wen-
det er sich mit »Demian«, den er 1917 schreibt, zurück in seine
Kindheit. »Demian« ist das Porträt des Künstlers als ewiges Kind.
Nur zwei Personen gibt es in diesem Buch, Emil Sinclair als der
Autor selbst (der sich seinen Namen von Hölderlins Freund und
Gönner Emil Sinclair borgt) und sein Psychotherapeut Lang als
alter nüchtern-besserwisserischer Pistorius.
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