Hesse-ABC
Distanz: »Wie eine weiße Wolke/Am hohen Himmel steht, /So weiß und schön und
ferne/Bist du, Elisabeth.« Und in dem unveröffentlichten Roman-
fragment »Der Dichter« (1901) hatte Hesse ausgesprochen, warum
er Elisabeth nicht nur so sehr bewunderte, sondern mindestens
ebenso sehr fürchtete: »Ein eleganter, geistreich schöner Kopf mit
lebendig beweglichen Zügen, mit hoher Stirne und kühlem klugen
Blick, mit schmalen Lippen, auf welchen Sinnlichkeit und Skepsis
stritten, und mit dem vielbewunderten präraffaelitischen Kinn.«
Emil Sinclair
Warum sucht man sich ein Pseudonym? Weil man etwas zu sagen
hat, für das man einen anderen Namen braucht. Im Falle Hesses,
einen unbekannten Namen. Denn das, was er sagen wollte, unter-
schied sich von dem, was der Camenzind-Autor bisher seinen Le-
sern mitzuteilen hatte. Zwischen Hesse und seinen – so
erfolgreichen – Autorennamen drängt sich der Erste Weltkrieg.
Hesse sieht sich nun mitsamt der ganzen von ihm kontinuierlich
fortgeschriebenen 19.-Jahrhundert-Tradition gründlich am Ende.
Für die »Deutsche Gefangenenfürsorge Bern« tätig, beginnt Hesse
über das Unheil des Krieges nachzudenken und diese Überlegun-
gen in Zeitungen zu veröffentlichen. Die Artikel sind moderat pazi-
fistisch, grenzen sich von dem blind-fanatischen Nationalismus
ab, in dem Hesse das Grundübel der Zeit sieht. Die deutsche Ge-
sandtschaft fordert ihn daraufhin ultimativ auf, derartige Stel-
lungnahmen zu unterlassen. Inzwischen hat sich auch die
reichsdeutsche Presse auf Hesse eingeschossen und beschimpft
den bis eben noch hochgelobten Dichter als Volksverräter und in
die Schweiz geflohenen Drückeberger.
Rückblickend bezeichnet Hesse diese Zeit als die »bitterste Prü-
fungszeit« seines Lebens. Wenn er sich also das Pseudonym Emil
Sinclair für seine Anti-Kriegsaufsätze wählt, so denkt er dabei an
Hölderlins gleichnamigen Freund und Gönner in Homburg, dessen
Name für ihn immer einen »heimlichen Klangzauber« besessen
habe. »Und unter dem Zeichen ›Sinclair‹ steht für mich heute noch
jene brennende Epoche, das Hinsterben einer schönen und un-
wiederbringlichen Welt, das erst schmerzliche, dann innig bejahte
Erwachen zu einem neuen Verstehen von Welt und Wirklichkeit,
das Aufblitzen einer Einsicht in die Einheit im Zeichen der Polari-
tät, das Zusammenfallen der Gegensätze, wie es vor tausend Jah-
ren die Meister des ZEN in China auf magische Formeln zu
bringen versucht haben.« (1962)
Aber die Krise Hesses ist nicht nur die einer in den Schützengrä-
ben von Verdun untergehenden alten Welt, sie betrifft auch Hes-
ses private Existenz. Sein bürgerlich befestigtes Familienleben ist
ebenfalls aus den Fugen. Darum erscheint auch ↑ » Demian« al s Zeugnis dieser Schaffenskrise, eines sichtbaren Neuanfangs wegen, zuerst unter dem Pseudonym Emil Sinclair. Dieses Buch wird
zur poetischen Nachlese einer Psychotherapie, der sich Hesse
1916 bei Josef Lang, einem Schüler Carl Gustav Jungs, unterzieht.
Ausführliche Gespräche über die Kindheit und das Verhältnis zu
den Eltern sind Teil dieser Therapie. In ihrer Folge entscheidet er
sich, die ihm unerträglich gewordene Ehe mit Maria Bernoulli zu
beenden und getrennt von seiner Familie einen künstlerischen
Neuanfang zu wagen.
Eros
Ist Beginnen, im Urbild des Anfangs gefangen. Eine Suche nach
verlorenen Paradiesen – in der Zukunft. Kunst treibt den Wider-
spruch des Künstlichen zum Sinnlich-Naturhaften auf die Spitze:
Hier erst offenbart er sich in seiner Einfachheit – als Anfang.
Eros ist das Spiel mit dem, was an uns nicht aus Not gemacht ist:
die Freiheit zu beginnen. Das Spüren des Übergangs, bevor wir
ihn wissen, Verringerung der Erdanziehung. Das Älteste im Neu-
en, das erst offenbar wird, wenn wir den schöpfenden Anfang ma-
chen.
Erziehung
Hesse weiß aus eigener, schmerzhafter Erfahrung mit der Drill-
schule ( ↑ Unterm Rad): Der Mensch ist nicht ein Stück Wachs, das man nach Belieben »pädagogisch« formen kann. Eher zerbricht er.
Der Dichter aber kultiviert den eigensinnigen Autodidakten, den
Selbst-Erzieher. Er ist, wie Siegfried Unseld in seinem Text »Her-
mann Hesse als Erzieher« schreibt, eine beispielhafte Existenz,
»die auf dem sonderbarsten Wege, nämlich durch sich selbst in
der Auseinandersetzung mit der Umwelt, erzogen worden ist.«
Was wir bei ihm lernen können, ist nicht viel mehr als eine Welt-
haltung. Die
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