Hesse-ABC
erlangen trachte, habe »keinen ärgeren Feind
als das Wissenwollen, als das Lernen«. Sie bleiben ein unauflös-
lich feindliches Zwillingspaar, Der Wirklichkeitsmensch Govinda
kann den Möglichkeitsmenschen Siddhartha nicht verstehen.
Große Zeiten
Immer wenn die »großen Zeiten« hereinbrechen, müssen die
Dichter und Träumer sich klein machen. Denn das ist die Stunde
der Patrioten mit ihren vaterländischen Beschwörungen. Da wol-
len kleine Menschen plötzlich große Feldherren sein – aber die
Last, das Leid und die Opfer müssen dann alle zusammen tragen.
Ein ewiger Kreislauf. Auch vor dieser deutschen Krankheit, süchtig
nach großen Zeiten voll falschen Pathos' zu sein, ist Hesse in die
Schweiz geflüchtet. Vor dem Ersten Weltkrieg bereits (1912), als
der Wilhelminismus die Atmosphäre vergiftete: »Auf einmal be-
haupteten Leitartikler, Universitätsprofessoren und Oberlehrer,
jetzt sei wieder Weltgeschichte, nicht mehr Alltag, jetzt sei eine
›große Zeit‹ angebrochen. Wir Dichter und anderen Außenweltler,
welche darüber die Achseln zuckten, und wir Religiösen, die wir
vor dem wahnsinnigen Übermut und der grausigen Sorglosigkeit
unsrer Führer warnten, wir waren jetzt nicht mehr harmlose Poe-
ten, über die man lacht – wir waren Vaterlandsfeinde, Defaitisten,
Miesmacher und wie alle diese hübschen Worte hießen. Wir wur-
den denunziert, wir wurden auf schwarzen Listen geführt, man
schlug uns in gutgesinnten Zeitungen giftige Schmähartikel um
die Ohren.«
H
Hans
Jüngerer Bruder Hesses. Wurde zum Vorbild des Hans Giebenrath
in ↑ » Unterm Rad «. Auf der Schule in Calw lernte er, Hermann Hesse, nur »Latein und Lügen«. Aber den jüngeren Bruder habe
man, »weil er ehrlich war, fast umgebracht. Der ist auch, seit sie
ihm in der Schule das Rückgrat gebrochen haben, immer unterm
Rad geblieben.« Hans Hesse nahm sich 1935 das Leben.
Harmonie
Wenn wir Chopin hören, wissen wir es: Alle Harmonie besteht aus
nervöser Intimität. Ständige Konvulsionen. Auch Hesse besitzt
diese übergroße Sensibilität, den romantischen Sinn für das Un-
abgeschlossene, das Flüchtige. Das Leben als eine Skizze, die im-
mer vorläufig bleibt. Ein Selbstversuch mit artistischen Mitteln,
der intime Nähe will und an seiner Distanz gebietenden Nervosität
scheitert. Alle Versuche des Einzelnen, mit dem Lebensganzen in
Harmonie (Gleichgewicht!) zu gelangen, stoßen an irgendeiner
Stelle unausweichlich auf schrille Dissonanz. Der Mensch in der
Krise. Aber auch diese wird für Hesse zum Teil einer höheren Ein-
heit, der Weltharmonie. Aus ihr kommen alle Melodien des Le-
bens, die heiteren ebenso wie die traurigen.
Harry Haller
↑ Steppenwolf
Haßbriefe
Was man so an einen Dichter schreibt, wenn man selber deutsch-
nationaler Burschenschafter ist und dieser Dichter im Verdacht
steht, nicht deutsch (also kriegsbegeistert) genug zu sein. Beson-
ders die Studenten der Universität Halle taten sich mit Haßbriefen
solcherart Inhalt hervor: »Ihre Kunst ist ein neurasthenisch-
wollüstiges Wühlen in Schönheit, ist lockende Sirene über damp-
fenden deutschen Gräbern, die sich noch nicht geschlossen ha-
ben. Wir hassen diese Dichter, und mögen sie zehnmal reife Kunst
bieten, die aus Männern Weiber machen wollen, die uns verfla-
chen und internationalisieren und pazifieren wollen. Wir sind
Deutsche und wollen es ewig bleiben. [...] Wir haben ein Recht zu
fordern, daß unsre deutschen Dichter (sind sie verwelscht, dann
mögen sie uns gestohlen bleiben!) unser schlummerndes Volk
aufrütteln, daß sie es wieder führen zu den heiligen Gärten des
deutschen Idealismus, des deutschen Glaubens und der deutschen
Treue!« Vor diese Vereinnahmungsgebärde eines militant-
nationalistischen Klüngels war Hesse schon vor dem Ersten Welt-
krieg in die Schweiz geflohen. Aber er bleibt in seiner Publizistik
wehrhaft. Wer bestimmt, wie ein deutscher Dichter zu sein hat?
Sind es Burschenschafter, für die alle Romantik zwangsläufig zur
Landserromantik wird, alles Pathos zum Opferpathos des fürs Va-
terland freudig sterbenden Soldaten? Nein, Hesse räumt das Feld
der von ihm innig geliebten ↑ Romantik nich t, und er verzichtet auch nicht auf jenes Pathos, das aus dem Schmerz des Einzelnen
kommt, der unter den Rädern des geist- und empfindungslos ge-
wordenen Ganzen zerrieben wird. ↑ lronie und ↑ Pathos gehören zusammen, weiß Hesse, voneinander
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