Hesse-ABC
Idiot Myschkin zum »Träger des Neuen«. Die-
ses Neue aber erkennt das Naturhaft-Barbarische in uns als zu uns
gehörig, indem es sich an den (kindlich-chaotischen) Anfang zu-
rückwendet. Das ist dann die Steppenwolf-Perspektive: »Die Zu-
kunft ist ungewiß, der Weg aber, der hier gezeigt wird, ist
eindeutig. Er bedeutet: seelische Neueinstellung. Er führt über
Myschkin, er fordert das ›magische‹ Denken, das Annehmen des
Chaos, Rückkehr ins Ungeordnete, Rückweg ins Unbewußte, ins
Gestaltlose, ins Tier, nicht um Urschlamm zu werden, sondern um
uns neu zu orientieren, um an den Wurzeln unseres Seins verges-
sene Triebe und Entwicklungsmöglichkeiten aufzufinden, um aufs
neue Schöpfung, Wertung, Teilung der Welt vornehmen zu kön-
nen. Diesen Weg lehrt kein Programm uns finden, keine Revoluti-
on reißt uns die Tore dahin auf. Jeder geht ihn allein, jeder für
sich.«
Indienreise
Gerade ein Monat ist seit der Geburt seines dritten Sohnes Martin
vergangen, als sich Hesse auf Reisen nach Hinterindien begibt. Im
September 1911 besteigt er in Genua das Schiff, das ihn, begleitet
von seinem Freund, dem Maler Hans Sturzenegger, über Aden
nach Ceylon, Malaysia, Singapur und Sumatra bringt. Natürlich ist
es eine Flucht vor dem ihn zunehmend beengenden Familienleben
in Gaienhofen. Das Experiment Landleben ist ebenso gescheitert
wie das der bürgerlichen Familie, auch wenn er sich letzteres hier
noch nicht eingesteht. Und nun soll die Exotik der Tropen Ab-
wechslung bringen. Zumal es eine Reise in ein Reich früher kindli-
cher Phantasien ist, denn die Eltern und der Großvater Gundert
waren als Missionare in Indien gewesen. Hesse läßt also Karten
drucken, die er an seine Bekannten verschickt: »Giltig vom 3. Sep-
tember an: Wir bitten davon Kenntnis zu nehmen, daß Herr Her-
mann Hesse für längere Zeit nicht in der Lage ist, Briefe zu
beantworten, da er für eine Reihe von Monaten in den Tropen auf
Reisen ist.« Schnell merkt Hesse jedoch, daß diese Unternehmung
ein Irrtum war. Er ist hier bloß ein Tourist. Von der Armut, die er
sieht, ist er schockiert, eine Armut, die Menschen ihre Würde
raubt. Über diese Reise hat Hesse dann wahrscheinlich weniger
geschrieben, als er zuvor beabsichtigte. Wir können in dem Reise-
text »Aus Indien« nachlesen, wie fremd und unwohl er sich fühlt.
Auch verträgt er, wie seine Eltern schon, das tropische Klima
überhaupt nicht. Er habe sich mit der Hitze von Singapur und Co-
lombo, mit den Moskitos und den Unbilden des Urwalds, mit indi-
schen Mahlzeiten, mit Durchfall und Kolik abgefunden. Am
schwersten aber falle es ihm, als vermeintlich reicher europäi-
scher Reisender, die Begehrlichkeiten der Einheimischen abwei-
sen zu müssen. »Ich lernte, an den schönsten kleinen Mädchen
mit den traurigsten schwarzen Inderaugen vorbeizusehen, wenn
sie bettelten, ich lernte die weißhaarigsten Urgroßväter, die wie
Heilige aussahen, mit kalten Blicken zurückweisen, ich gewöhnte
mich an ein treues Gefolge von käuflichen Menschen jeder Art,
das ich durch feldherrenhafte Handbewegungen und grobe Zurufe
in Schranken zu halten wußte. Ich lernte sogar, mich über Indien
lustig zu machen, und ich schluckte die scheußliche Erfahrung,
daß der seelenvolle, suchende Beterblick der meisten Inder gar
nicht der Ruf nach Göttern und Erlösung ist, sondern einfach ein
Ruf nach Money.« (»In Kandy«) Und in »Erinnerung an Asien« von
1914 heißt es: »Die unterdrückten Völker der Tropenländer stehen
unserer Zivilisation als Gläubiger mit älteren und gleichbegründe-
ten Rechten gegenüber wie etwa die Arbeiterklasse in Europa.
Wer im eigenen Automobil im Pelz an Arbeitern vorüberfährt, die
müde und frierend nach Hause gehen, kann keine ernsteren Ge-
wissensfragen an sich stellen als wer auf Ceylon oder Sumatra
oder Java als Herr zwischen lautlos bedienenden Farbigen lebt.«
Etwas wie Scham hat ihn ergriffen, die Frage: Was tu ich Müßig-
gänger hier? 1923 schreibt er an Romain Rolland, die Reise sei für
den Moment eigentlich eine Enttäuschung gewesen, aber eine, die
die schönsten Früchte (»Siddhartha«) trug.
Zurück in Gaienhofen, beschließt Hesse, das Haus zu verkaufen, in
dem sich auch seine Frau – verständlicherweise – verlassen und
mit drei Kindern überfordert fühlt. Diese Entscheidung ist auch ein
Resultat der Indienreise, die mehr war als eine Flucht, sondern,
wie Hesse beteuert, ein
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