Hesse-ABC
die in ihrer Hilflo-
sigkeit auch die dichterische Qualität aus dem Blick verlieren.
Hesse hat später nur wenige von den »Krisis«-Gedichten in die
Gesamtausgabe übernehmen wollen. Als Zeugnis für die panische
Orientierungslosigkeit eines Dichters in schwerer Lebenskrise aber
sind sie immer noch lesenswert. Auch als Zeugnis dafür, daß tiefe
und echte Verzweiflung nicht vor trivialem Ausdruck schützt. Hes-
se hat all das sehend in Kauf genommen, wenn er unter der Über-
schrift »Wie schnell das geht!« in Spruch-Postkartenmanier reimt:
»Eben war ich noch ein Kind,/Lachte laut in meiner glatten Haut, /
Und jetzt bin ich schon ein alter Mann, / Der vertrottelt seinen Fa-
den spinnt,/Der aus roten Augen blöde schaut/Und nicht mehr
ganz aufrecht gehen kann./O wie geht das Welken so ge-
schwind:/Gestern rot, heute Idiot, / Übermorgen tot!«
Kurgast
Sein »persönlichstes und ernsthaftestes Buch« nennt er es, jedoch
»hinter einer halb scherzhaften Fassade«. Es ist der Bericht Hesses
ersten Kuraufenthalts im schweizerischen Baden, wo sich der
Sechsundvierzigjährige wegen seiner Gicht- und Ischiasleiden
behandeln ließ. 1924 erschienen die Aufzeichnungen eines Bade-
gastes (kurz vor Thomas Manns »Zauberberg«) als »Psychologia
Balneria« in S. Fischers »Neuer Rundschau«, ein Jahr später die
Buchausgabe unter dem Titel »Kurgast«. Ein schmaler Band, gut
hundert Seiten – und doch gehört er mit ↑ » Klingsors letzter Sommer« und dem ↑ » Steppenwolf « nicht nur zu den schönsten, sondern auch zu den wichtigsten Texten Hesses. Der Kurgast ist
nichts weniger als der Dichter in der Krise. Inmitten der modernen
Gesellschaft mit ihrer überfließenden, auf bloße Zerstreuung fi-
xierten Oberflächlichkeit einerseits und ihrer Seelenarmut ande-
rerseits entsteht das Selbstporträt als ↑ Neurotiker , zu dem der Künstler im 20. Jahrhundert zu werden verdammt ist, will er nicht
zum marktkonformen Kunsthandwerker verkommen. Und es ist
der Versuch, den seelenlosen Status quo zu verwandeln. Der My-
stiker vermag noch im schärfsten Widerspruch das einheitsstif-
tende Moment zu erkennen.
Hugo Ball schreibt, der Kurgast, der »nahezu wie ein Querulant«
wirke, habe seinen eigenen Doppelgänger mitgebracht. Der Dop-
pelgänger, die Spiegelung des einen im anderen, dieses »Tat
twam asi« (»Das bist auch du«), findet sich in vielen Texten Hes-
ses. Im Kurgast heißt es, er sei plötzlich nicht mehr bloß der Kur-
gast gewesen, »der mit schwerfälligem Gebein und freudlosem
Gesicht die Hoteltreppen hinunterstieg« – sondern zugleich »Zu-
schauer seiner selbst«. Das bessere Ich spaltet den notorischen
Sünder von sich ab, beobachtet das Versagen des ewigen Außen-
seiters. Hier leuchtet etwas vom neuplatonischen »Lichtleib« auf,
der, inmitten des Widerstreits, zum Medium der einheitsstiftenden
Versöhnung des Auseinanderstrebenden wird: »Ich möchte einen
Ausdruck finden für die Zweiheit, ich möchte Kapitel und Sätze
schreiben, wo beständig Melodie und Gegenmelodie gleichzeitig
sichtbar wären, wo jeder Buntheit die Einheit, jedem Scherz der
Ernst beständig zur Seite steht. [...] Für mich sind die höchsten
Worte der Menschheit jene paar, in denen diese Doppelheit in
magischen Zeichen ausgesprochen ward, jene wenigen geheim-
nisvollen Sprüche und Gleichnisse, in welchen die großen Welt-
gegensätze zugleich als Notwendigkeit und als Illusion erkannt
werden.« Der Weg durch Mißlichkeiten und Kritik hindurch zur
Bejahung ist schwierig. Hesse hat ihn im Kapitel vom ↑ Holländer
in seinen absurden Momenten und voller Selbstironie nachge-
zeichnet. Aber im Grunde ist es ihm Ernst: Man muß seinen Geg-
ner lieben lernen, ihn damit entdämonisieren, als Teil des eigenen
Ich begreifen. Der Holländer steht für die rustikale, aber völlig
amusische Lebenstüchtigkeit einer Welt, in der der Handel prospe-
riert, aber der einzelne Mensch (und der Künstler ist der Inbegriff
des Einzelnen) zunehmend vereinsamt. So wird Hesses »Kurgast«
zum Prototyp des sich dem Kurbetrieb als Stellvertreter des gro-
ßen Weltbetriebs still verweigernden Außenseiters. Das ist der
romantische Künstler, der ängstlich in sich hineinlauscht. Der
Künstler muß der betriebsamen Welt darum unweigerlich als Neu-
rotiker erscheinen, weil er sich sicher ist, moralisch »in der faulen
und erschlaffenden Badeatmosphäre zu verkommen«. Die
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