Hesse-ABC
Schlußbild dieses wunderbar
verspielten und trotzdem konzentrierten Textes (den, wer germa-
nistisches Vokabular nicht fürchtet, getrost einen Schlüsseltext
nennen darf) den alternden Dichter in einer Gefängniszelle. Einge-
sperrt, wegen der Verführung eines jungen Mädchens, zeichnet er
sich dort eine Eisenbahn, die in einen Tunnel hineinfährt. Dann
legt er den Stift aus der Hand, macht sich klein, geht in sein Bild
hinein und fährt mit der selbstgemalten Eisenbahn seinen verle-
gen zurückbleibenden Wärtern davon.
L
Landexamen
Eine Einrichtung Württembergs, um Kindern aus einfachen Ver-
hältnissen eine kostenlose Hochschulbildung zu ermöglichen. Oft
waren es strebsame Pietisteneltern, denen für ihre Kinder eine
theologische Laufbahn auf diesen »Seminaren« vorschwebte. De
facto waren es Kaderschmieden; ein Großteil der württembergi-
schen Pfarrer und Lehrer kam aus den Seminaren. Das Landex-
amen entschied über die begehrten Freistellen auf einem der
Seminare, für die der Staat die Kosten übernahm. Zur Vorberei-
tung aufs Landexamen hatten sich spezielle Pauk-Schulen einen
zweifelhaften Ruf erworben. Auch Hermann Hesse kam in eine
solche, nach Göppingen zum alten Rektor Bauer. Dieses Unikum
beschrieb er später in »Aus meiner Schülerzeit«: »Der sonderbare,
beinah abschreckend aussehende, mit zahllosen Originalitäten
und Schrulligkeiten ausgestattete alte Mann, der hinter seinen
schmalen grünlichen Augengläsern hervor so lauernd und
schwermütig blickte, der unsere enge, überfüllte Schulstube voll-
rauchte, wurde mir für einige Zeit zum Führer, zum Vorbild, zum
Richter, zum verehrten Halbgott.« Der junge Hermann Hesse ist
also durchaus zu Bewunderung und Verehrung fähig, nur dort, wo
man sie ihm abpressen will, rebelliert er. Im Sommer 1891 besteht
Hermann Hesse das Landexamen und zieht ins Klosterseminar
↑ Maulbronn ein.
Laotse
Verfasser eines der faszinierendsten Bücher der Weltliteratur:
»Taoteking«. Geheimnisvoll schillert es in diesem Meisterwerk der
altchinesischen Literatur, das vor etwa 2500 Jahren geschrieben
wurde. Hesse hat es der Bibel an die Seite gestellt. Vor allem sei-
nes paradoxen Charakters wegen. Wenn es neben Heraklit einen
Dialektiker par excellence gibt, dann Laotse.
Was ist das Tao? Der Urgrund, in den alles, was von ihm ausgeht,
einmal zurückläuft: »dort, wo am tiefsten das tiefe/liegt aller ge-
heimnisse pforte«. Das Schwere und Leichte, das Licht und das
Dunkel, die Ruhe und die Bewegung, das Oben und das Unten –
alles geht aus seinem Gegenteil hervor. Wahre Weisheit besteht
nun darin, das rechte Maß zu finden: »der weise aber tut ab das
zuviel/den Überfluß/das Übermaß«. Da denken wir sofort:
↑ Goethe! Auch d essen Harmonie-Vorstellung von Natur und Geist, Wille und Verstand, Glauben und Wissen – zielt auf ein die Gegensätze überformendes Ganzes. Hesse verehrt in Goethe darum den
west-östlichen Denker, seine Fähigkeit, das verspielt Helle mit der
animistisch-magischen Ursprungsdunkelheit zusammenzubringen.
Lauscher, Hermann
Oft unterschätzt: die »Hinterlassenen Schriften und Gedichte von
Hermann Lauscher« (1901). Sie bringen Hesse die Einladung von
Samuel Fischer ein, künftig in seinem Verlag zu publizieren. Von
diesem höchst poetischen kleinen Buch laufen unterirdische Kanä-
le zum »Demian« oder auch zur Künstlernovelle »Klingsors letzter
Sommer«, schließlich sogar zum rebellischen »Steppenwolf« und
altersweisen »Glasperlenspiel«. Ein Schlüsselbuch, das viele der
späteren Motive schon in sich trägt. Ist Harry Haller also ein in die
Jahre gekommener Hermann Lauscher? In gewisser Weise schon.
Ein Ästhet jedenfalls, den die Bitterkeit einer brutal-
phantasielosen Zivilisation in die Abgründe surrealer Traumreiche
stößt. Lauter Türen: »Eintritt nur für Verrückte.«
Ein sehr modernes Buch, in seiner mehrfach fragmentarisch ge-
brochenen, fast skizzenhaften Form: ein Traumbuch im dichteri-
schen Niemandsland zwischen den »Nachtwachen Bonaventuras«
und Rilkes »Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«. Der
Traum auf der Grenze zum Alptraum. Ein Kuriosum dieses Buches
ist das Auftreten Hermann Hesses als Freund Hermann Lauschers.
In Lauschers »Tagebuch 1900« mimt er ein »langes Gespräch mit
Hesse, der mich natürlich nörgelte und zwickte, bis ich grob wur-
de«. Oder auch: »Hesse will mir einen Artikel über Tieck abjagen,
den er
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