Hesse-ABC
doch besser kennen müßte als ich.«
Welche Gemeinsamkeiten sieht Hesse hier zwischen sich, Lau-
scher und dem Romantiker Tieck? Es sind »dieselben sensiblen
Nerven, derselbe Mangel an Plastik, derselbe Zug zum Flüchtig-
sten, Oberflächlichsten, zum Schillernden, Flackernden und Unfe-
sten, dieselbe Verwandtschaft mit der Musik, dieselbe Auflösung
der Prinzipien, zur künstlerischen Ironie«.
Leckerlifresser
Manche Deutsche denunzieren nach dem verlorenen Zweiten
Weltkrieg Emigranten als Verräter. Auch Hesse ist in deren Augen
kein Schweizer, sondern ein die sichere und wohlhabende
Schweiz wegen ihrer Annehmlichkeiten vorziehender Ausreißer.
Als Hesse dann im August 1945 in seinem Rigi-Tagebuch den
Deutschen empfiehlt, nun endlich den unseligen ↑ Nationalismus
hinter sich zu lassen, brechen die Haß-Attacken wieder einmal
über Hesse herein. Hier fällt dann auch das häßliche Wort vom
»Leckerlifresser«, der »keinen Anspruch habe, im heutigen
Deutschland noch mitzureden«.
Leser
»Vom Bücherlesen« heißt ein kleiner Text, der in der 1923 erstma-
lig erschienenen Sammlung »Sinclairs Notizbuch« enthalten ist.
Drei Leser-Typen macht Hesse hier aus.
Erstens den »naiven« Leser. »Dieser Leser nimmt ein Buch zu sich
wie ein Essender eine Speise, er ist lediglich Nehmender, er ißt
und saugt sich voll, sei es als Knabe am Indianerbuch, als Dienst-
magd am Gräfinnenroman oder als Student an Schopenhauer.
Dieser Leser verhält sich zum Buche nicht wie Person zu Person,
sondern wie das Pferd zur Krippe, oder wie das Pferd zum Kut-
scher: das Buch führt, der Leser folgt.« Gelegentlich, sagt Hesse,
sind wir natürlich alle naive Leser. Eine höhere Form des Lesers
verkörpert der Typus des Spielers, er erkennt das Buch als Kunst-
produkt und verhält sich entsprechend. Für ihn enthält das Buch
mehrere Möglichkeiten, es erzählt nicht eine, sondern viele Ge-
schichten. Dieser Leser hat auf das Buch einen artistischen Blick-
winkel. Er »... folgt dem Dichter nicht wie das Pferd dem Kutscher,
sondern wie der Jäger einer Fährte, und ein plötzlich gefundener
Blick in das Jenseits der scheinbaren Dichterfreiheit hinein, in des
Dichters Zwang und Passivität, kann ihn mehr entzücken als alle
Reize einer guten Technik und einer kultivierten Sprachkunst«.
Die höchste Form des Lesens erreicht der dritte Typus: »Dieser
dritte Leser ist so sehr Persönlichkeit, ist so sehr er selbst, daß er seiner Lektüre völlig frei gegenübersteht. Er will weder sich bilden
noch sich unterhalten, er benutzt das Buch nicht anders als jeden
Gegenstand der Welt, es ist ihm lediglich Ausgangspunkt und An-
regung.« Der Leser dieser dritten Stufe steht dem Buch völlig frei
gegenüber: Er braucht es nicht mehr. »Der Mensch, der ihr dau-
ernd angehörte, würde bald überhaupt nichts mehr lesen, denn
das Muster eines Teppichs oder die Ordnung der Steine in einem
Gemäuer wäre ihm genauso viel wie die schönste Seite voll best-
geordneter Buchstaben.« Das ist, wie alle Typologie, nur ein Ge-
dankenspiel. Der echte Leser aber ist ein Wanderer in
Phantasiereichen. Er hält sich nicht an Typologien, sie langweilen
ihn in dem Moment, wo sie mehr bedeuten wollen als ein intelli-
gentes Spiel. Oder wie Hesse über die Dialektik von Lesen und
Leben sagt: »Ich lasse jedem Leser sein volles Recht, mich zu le-
sen oder nicht, mich zu lieben oder zu hassen, meine Sachen
schön oder dumm zu finden – aber ich für mich beanspruche
ebenfalls das Recht, mich auf meine Art durch das schwere Leben
zu schlagen, und mich mit meinen Problemen auf meine eigene
Art auseinanderzusetzen.«
Letzte Lektüre
Bis zu seinem Todestag blieb Hesse ein passionierter Leser. Igor
Strawinskys »Musikalische Poetik« konnte er nicht mehr beenden.
Auch über dieses Buch hat er noch korrespondiert. Ende Juli 1962
schreibt er an Gerta Grube: »Die Gescheitheit und Beschlagenheit
Strawinskys steht für mich außer Zweifel, er ist eine Autorität.« Es
geht in dem Brief um einen Satz Strawinskys über Beethoven,
dem Hesse zustimmt. Strawinsky meint, Beethoven habe sich zeit-
lebens nach der »Gabe der Melodie« gesehnt, »die ihm als einzige
abging...« Für Hesse ein Pluspunkt Mozarts gegen Beethoven, bei
dem er den »Verfall« in der Musik ihren Anfang nehmen sieht.
Leukämie
Hesse litt in seinem letzten Lebensjahr an Leukämie, ohne es zu
wissen. Die Folge der Blutarmut war eine
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