Hesse-ABC
hinter den Anstaltsmauern. Ein Arzt hat
ihm gerade »primäre Verrücktheit« bescheinigt; die Lage ist ernst.
Also zeigt er Reue und bittet die Eltern, ihn ins Basler Missions-
haus zu einer befreundeten Pfarrersfamilie gehen zu lassen. Die
ratlosen Eltern lenken ein – und Hermann ist seinem Gefängnis
glücklich entronnen. ( ↑ Cannstatt )
Stiftlerneurose
Hesse hat eine seiner schönsten Novellen über die Stiftlerneurose
geschrieben: »Im ↑ Presselschen Gartenhaus «. Die schwäbischen Dichter Hölderlin, Waiblinger und Mörike verbindet das Trauma
der Klosteratmosphäre, der Drill der Stiftsschulen mit ihrem ab-
strakt-militanten Bildungsideal. Sie eint die Sehnsucht nach dem,
was ihnen diese Klosterschulen vorenthielten: Poesie, die aus der
Liebe kommt, und Einfühlung in die Natur. Hölderlin litt in ↑ Maul-
bronn, Mörik e und Waiblinger in Urach. Alle drei rebellieren sie, verteidigen ihre innere Freiheit gegen die staatlichen Dressurver-suche. Allerdings um den Preis einer ungewöhnlichen Empfind-
lichkeit. Sie alle gehen beschädigt aus den Stiftsschulen hervor,
leiden unter Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit, Überarbeitung
und Schuldgefühlen. Hier aber wächst im Widerstand gegen die
genormte Umwelt auch etwas, was Hesse die schönste Tugend
überhaupt nennt: ↑ Eigensinn.
Stil
Ein Avantgardist!? Eher konventionell, so scheint es auf den er-
sten Blick, ist Hesse in der Wahl seiner Ausdrucksmittel. Ernst Ro-
bert Curtius nannte es ein »sorgliches Pinseln«. Hesses
Sprachbehandlung wirke bald kindhaft, bald schülerhaft: »Es fun-
kelt nie in seiner Prosa.« Dennoch klingt momentweise ein Ton an,
»der magisch ans Herz greift«, befindet Curtius. Immerhin, selbst
die, die ihn bloß für einen aus dem 19. Jahrhundert halten (Curti-
us, Benn), müssen Hesse eine höchst wirkungsvolle Meisterschaft
konzedieren: In einfachster Sprache komplizierteste menschliche
und philosophische Fragen aussprechen zu können, ohne sie zu
trivialisieren.
André Gide bemerkt, daß bei Hesse »nicht die Gemütsbewegung
oder der Gedanke, sondern allein der Ausdruck« gemäßigt sei,
getragen von einer verhaltenen Ironie, »deren, wie ich glaube, nur
sehr wenige Deutsche fähig sind und deren absolutes Fehlen mir
so oft die Werke vieler ihrer Autoren verdirbt, die sich so er-
schreckend ernst nehmen«. Ein Avantgarde-Dichter in dem Sinne,
daß er die Sprache bis zur abstrakten Formel verdichtete, war er
nicht. Also doch bloß ein impressionistischer Wort-Maler, der
nichts weglassen konnte? Aber das verkennt die Metamorphosen
dieser Sprache. Sie fließt nur, weil sie den sinnlichen Eindruck in
sprachlichen Ausdruck zu übersetzen vermag: mittels Einschnitt in
die Fülle. Diese Einschnitte spürt der Leser als Pausen, beredtes
Schweigen. Ich und Welt, immer wieder Ineins zu bilden, das ist
Motivation und zugleich Ziel all seines Schreibens. Erst dieser
Ernst rechtfertigt für Hesse seine Dichterexistenz. So sieht sich
Hesse doch an seine pietistischen Wurzeln gebunden. Gegen de-
ren sektenhaft-bornierte Gestalt, wie er sie als Kind in seinem El-
ternhaus erlitt, aber wehrt er sich zeitlebens. Doch die pietistische
Wortgläubigkeit teilt er. Auf eine sehr subtile Weise allerdings.
Hesses Magie des Buches überträgt sich auf seine Leser. So wird
der Stil zur maßgeblichen Instanz alles Geistigen. Es ist eben eine
besondere Form, in der der einzelne die überkommene Kultur re-
produziert. Stil ist für Hesse immer jene Haltung zur Welt und zu
sich selbst, die sich am Wort mißt. Das Bürger-Künstler-Thema
Hesses manifestiert sich letztlich hierin: »Gern vergleicht man den
Phantasten mit dem Verrückten. Der Bürger ahnt richtig, daß er
selbst sofort wahnsinnig werden würde, wenn er sich so wie der
Künstler, der Religiöse, der Philosoph auf den Abgrund in seinem
eigenen Innern einließe.« Das Wort hat Folgen, zuallererst für den,
der spricht. Es öffnet oder verschließt Welten. Für Hesse ist es
immer anderes und mehr als jene beliebige Bezeichnungsrelation,
auf die die Formallogik Sprache einschrumpft. Sprache nur als
Instrument, als Mittel oder Medium für Informationen zu sehen,
heißt sie mißachten. Für Hesse aber vollzieht sich im Wort unsere
Humanisierung. Dichtung wird ihm zu einem Stück Magie. Das
Wort soll den Geist erwecken, uns über unsere Vereinzelung hi-
nausheben und in einen geistigen Weltzusammenhang bringen.
Deshalb müssen wir
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