Hesse-ABC
Das große Nivellieren aller Unterschiede. Aber vielleicht, so
das Krisenbuch vom Steppenwolf, ist es ja nicht die Krankheit zum
Tode, sondern zur Heilung? Im Nachwort von 1942 hat Hesse es
so sehen wollen. Es sei keineswegs das Buch eines Verzweifelten,
sondern das eines Gläubigen.
Stetten
Eine Irrenanstalt. Von Bad Boll nach seinem angekündigten
Selbstmord hierher verbracht, fühlt sich der Fünfzehnjährige von
seinen Eltern verraten. Bei seiner Ankunft ruft er empört, mitten
auf dem Hof der Anstalt: »In das Gefängnis wollt ihr mich sper-
ren? Lieber spring ich in den Brunnen dort!«
Die Eltern versuchen, sich gütlich mit dem geschockten Jungen zu
einigen. Der Inspektor der Anstalt Pfarrer Schall erklärt sich bereit, Hermann bei sich aufzunehmen. Der Fünfzehnjährige soll ihm bei
der Gartenarbeit helfen. Die Diagnose seiner Krankheit lautet: Me-
lancholie. Leicht hätte es passieren können, daß sich die Tore der
Nervenklinik für immer hinter Hesse geschlossen – oder ihn ge-
brochen, ohne Widerstandswillen wieder in die bürgerlich-bigotte
Welt entlassen hätten. Daß dies nicht geschah, ist in dieser Zeit
Hermanns älterem Stiefbruder Theodor zu verdanken, der sich als
Apothekergehilfe in Waiblingen in sein Dasein geschickt hatte.
Doch früher wollte er einmal Opernsänger werden und war seiner
Familie davongelaufen. Mit ihm ging es – in den Augen der Eltern
– gut aus. Theodor führte jetzt ein pflichttreu-regelmäßiges Leben,
aber er hatte seinen Traum nicht vergessen und darum Sympathie
für Hermanns Widerspenstigkeit. Er war es, der die Eltern zu be-
ruhigen vermochte und von einer normalen Entwicklungskrise
sprach. Der Sechsundzwanzigjährige schrieb an die Eltern, er
würde Hermann schon wieder auf den rechten Weg zurückbrin-
gen, jedoch »unter Vermeidung alles Christlichen oder Religiösen,
womit man immer die Jugend abstoße«. Tatsächlich erholt sich
Hermann in den kommenden sechs Wochen, die Gartenarbeit kräf-
tigt ihn. Zudem nimmt ihn der Bruder mit zu Besuchen im Haus
der Frau Pfarrer Kolb in Cannstatt, wo er über Literatur sprechen
kann. Auch gefällt ihm die Pfarrers-Tochter Eugenie außerordent-
lich. Hermann fühlt sich nun wieder ganz gesund und will nur
noch raus aus der Anstalt. Der Vater erscheint persönlich in Stet-
ten, auf Drängen von Anstaltsleiter und Arzt gibt er den Bitten
Hermanns – wenn auch widerstrebend – nach und nimmt ihn mit
nach Hause.
In Calw aber fällt die pietistische Frömmelei wieder wie ein dunk-
les Tuch über ihn. Es ist ein heißer Sommer, viele Pietistenbrüder
auf der Durchreise steigen im Haus der Eltern ab, man liest eifrig
religiöse Texte, und Hermann fühlt sich vernachlässigt. Er provo-
ziert mit schlechtem Benehmen, und so etwas ist für die Eltern
immer nur ein Krankheitssymptom. Also bringt man ihn kurzer-
hand in die Anstalt zurück. Und jetzt fällt Hermann wirklich das
Entsetzen an. Soll er denn für immer eingesperrt sein, weil er sich
nicht fügen will, wo es ihm widerstrebt? Heranwachsende haben
im pietistischen Horizont der Eltern keinerlei eigenen Willen zu
haben. Sie sind der Teig, die formlose Masse, die erst in eine
Form gebracht werden muß: als Untertan.
Hesse schreibt Briefe voller Verzweiflung und offenem Haß. Am
30. August 1892 notiert er galgenhumorig: »Nun jedenfalls seid ihr
mich los, das genügt ja. Achtungsvoll H. Hesse Nihilist (Haha!).«
Niemand bemerkt, daß hier ein junger sensibler Mensch zu zer-
brechen droht. Wie lange wohl hätte Hesse die offene Opposition
gegen den Vater durchgehalten, den er nun höhnisch mit »mein
Herr« anspricht: »Meine letzte Kraft will ich aufwenden, um zu
zeigen, daß ich nicht die Maschine bin, die man nur aufzuziehen
braucht. Man hat mich mit Gewalt in den Zug gesetzt, herausge-
bracht nach Stetten, da bin ich und belästige die Welt nimmer,
denn Stetten liegt außerhalb der Welt. Im übrigen bin ich zwi-
schen den vier Mauern mein Herr, ich gehorche nicht und werde
nicht gehorchen.«
Die Eltern aber sehen im Freiheitsbedürfnis Hermanns nur einen
Angriff auf sich, sie verstehen es nicht. Und die Liebe, die sie im-
mer auf den Lippen führen, können sie nicht empfinden. Das ist
es, was Hesse empört. »Ihr seid Christen, und ich – nur ein
Mensch.« Aber als die Wut immer mehr der Angst weicht, weiß er,
er muß sich jetzt vor allem klug und diplomatisch verhalten, sonst
kommt er nie mehr hervor
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