Hesse-ABC
»Grundbesitz«, den er je besessen
habe, wie er stolz versicherte.
Tragisch
Eine Allegorie auf den Zeitgeist. Variation auf Schopenhauers
Ȇber die seit einigen Jahren methodisch betriebene Verhunzung
der Deutschen Sprache«, worin es heißt, an Zeitungen fände sich
die »letzte Klasse der Druckschreiber, welche für den Tag, auf den
Tag, in den Tag hinein schreibt«. Eine Dekadenzdiagnose, die
nach drakonischen Maßnahmen geradezu schreit: »Ich habe sie
schon, in dieser Hinsicht, der polizeilichen Aufsicht empfohlen.«
Hesse verfaßt, siebzig Jahre nach Schopenhauer, im Jahre 1922
seinen kleinen Text »Tragisch«. Der alte Schriftsetzer Johannes
spricht bei seinem Chefredakteur vor, um sich über den rapiden
Verfall der Sprachkultur in der Zeitung zu beklagen. Johannes war
ein in der »vormodernen Periode sehr geschätzter, beinahe be-
rühmter Schriftsteller« gewesen, der irgendwann aus der Mode
kam und sich einen Brotberuf suchen mußte. Am meisten klagt er
über den Redakteur der Rubrik »Vermischtes«, der jeden kleinen
Unfall mit dem Wort »tragisch« bedenkt. – Johannes stirbt
schließlich entnervt im Kampf mit den Korrekturbögen und auch
dafür hat selbiger Redakteur für Vermischtes schon die Nachrich-
tenüberschrift: »Tragischer Tod eines Dichters«. Dann aber be-
sinnt er sich der Klage des alten Mannes und ersetzt es durch ein
»bedauerlich«. Es ist Hesse selbst, der sich als alter Schriftsetzer
im Kampf mit den Windmühlenflügeln einer auf Touren kommen-
den Medienmaschinerie fallen sieht. Dagegen wehrt er sich mit
Ironie. Vielleicht auch muß man sich selbst zum Opfer bringen,
um den Vertretern des Zeitgeistes die gröbsten Unarten abzuge-
wöhnen?
Traum
Es ist ein Ergebnis seiner Psychoanalyse bei Dr. Lang, daß Hesse
beginnt, seinen Träumen mehr Beachtung zu schenken. In dieser
Zeit hat er begonnen zu malen – »keine Natur, bloß Geträumtes«.
Er führt in den Jahren 1917/18 auch ein »Traumtagebuch«. Dieses
ermöglicht es ihm, sich des ganzen Ausmaßes der Krise, in der er
steckt, bewußt zu werden. Am 5. August 1917 notiert er: »Im Gan-
zen ist mein Zustand der: ich lebe in einem Mangel an Gedanken
und an Gedächtnis, den ich bei einem anderen als idiotisch erklä-
ren würde; ich bringe den Tag mit Kleinigkeiten hin, lese mit
Wichtigkeit die Post und Zeitung, arbeite etwas im Garten, Mo-
mente des Wohlseins verdanke ich der Cigarre und abends dem
Wein. Morgens ist der Zustand am elendsten, kein Gedanke mög-
lich, als Stumpfheit und Ekel.« In seinen Träumen ist auch viel
Sexuelles, auch Homoerotisches – und Hesse als treulicher Chro-
nist schreibt alles auf. Aber als Dichter wird es ihm wieder zum
Material, das er benutzt. Die Homoerotik im Traum von seinem
Freund, dem Komponisten Othmar ↑ Schoeck , deutet er unter der Überschrift »Einfälle zum Schoeck-Traum«: »Auffallend ist, wie in
diese Träume wieder nackte Männer kommen; Anklänge eroti-
scher Empfindungen habe ich nur bei Schoeck. Schoeck ist in
Wirklichkeit sehr dezent und schamhaft.« Auch wenn Hesse selbst
kein homoerotisches Interesse bekundet, die doppelgeschlechtli-
che Existenzform – das Ideal des ↑ Hermaphroditen – spielt in Hesses Denken eine zentrale Rolle.
Das »Traumtagebuch« eröffnet Hesse den Weg zur surrealen Text-
form. Ohne diese ausdrückliche – und für einen Künstler immer
hoch problematische – Zuwendung zur verschütteten Traumsub-
stanz in sich mittels der Psychoanalyse, hätte Hesse wohl kaum
die Tür zum »magischen ↑ Theater« in sich öffnen können, und auch das ↑ » Glasperlenspiel « wäre ungeschrieben geblieben.
Tübingen
Im Oktober 1895 kommt Hesse, nicht als Student, sondern als
Lehrling, nach Tübingen. Er tritt in die Buchhandlung Heckenhau-
er ein. Hier lernt er Bücher zu verpacken, Kataloge zu lesen und
Kunden zu bedienen. Vier Jahre bleibt er, erst als Lehrling, dann
als zweiter Sortimentsgehilfe.
Abgeschieden von den Studenten, von denen er einige aus seiner
Göppinger und Maulbronner Zeit kennt, ist er ganz auf sich ge-
stellt. Er beginnt, sich lesend selbst zu bilden. Nicht leicht bei ei-
nem Zwölf-Stunden-Tag. Von halb acht am Morgen bis halb acht
am Abend hält ihn die Buchhandlung gefangen. »Abends flüchte
ich vom Äußren der Bücher in's Innere und betreibe planmäßig
literaturhistorische und überhaupt geistesgeschichtliche Studien,
die, wie ich hoffe, sich später werden
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