Hesse-ABC
hat Hesse über den Fanatismus dieser selt-
samen Apostel des naturgemäßen Lebens nur noch in höchst iro-
nischen Tönen sprechen mögen (»Doktor Knölges Ende«), hier
aber ist es ihm mit der Suche nach einer alternativen Lebensform
noch bitterernst. Doch schnell bekommt Hesse es zu spüren, daß
man nicht Natur propagieren und gleichzeitig die eigenen Sinne
vergewaltigen kann. Das erinnert ihn dann auf einmal sehr heftig
an die enge Verbotsatmosphäre im pietistischen Elternhaus. In
den »Sonnenbrüdern« sieht er nun eher ein poetisches Sinnbild
des romantischen Individualismus ( ↑ Knulp ), nicht mehr die Vorrei-ter einer großen gesellschaftlichen Gesundung.
Steppenwolf
Die Geschichte des Steppenwolfes ist die Geschichte ↑ Harry Hal-
lers . Ein aus der Zeit gefallener Intellektueller: Außenseiter, der seine Zeit zu gut versteht, als daß er sie nicht verachten müßte.
Ein moderner Stoiker. »... er hatte mehr gedacht als andre Men-
schen und hatte in geistigen Angelegenheiten jene beinahe kühle
Sachlichkeit, jenes sichere Gedachthaben und Wissen, wie es nur
wahrhaft geistige Menschen haben, welchen jeder Ehrgeiz fehlt,
welche niemals zu glänzen oder den anderen zu überreden oder
recht zu behalten wünschen.« Mit dem 1927 erschienenen »Step-
penwolf« zeichnet Hesse das Autoporträt eines Intellektuellen in
der Krise. Die Krise rührt daher, daß er sich fremd in der Zeit fühlt, in der er gezwungenermaßen lebt. Er ist als unabhängiger Privat-denker eine unzeitgemäße Erscheinung, nicht wirklich wichtig für
die Macht (auch als ihr Feind nicht ernstzunehmen), höchstens ein
kleines Ärgernis, das man leicht übersieht. Sucht im »magischen
↑ Theater« d as Reich der Möglichkeiten, in dem eine andere Logik herrscht, wo man zur ↑ Autojagd bläst od er mit ↑ Mozart alberne Dinge treibt. Das »magische Theater« wird zum Reich der Freiheit,
in das sich eine von uniformer Alltäglichkeit verfolgte Künstlersee-
le flüchtet. Der Steppenwolf erscheint uns wie ein Seismograph,
sein Blick »durchdrang unsere ganze Zeit, das ganze betriebsame
Getue, die ganze Streberei, die ganze Eitelkeit, das ganze ober-
flächliche Spiel einer eingebildeten seichten Geistigkeit – auch,
und leider ging der Blick noch tiefer, ging noch viel weiter, als
bloß auf Mängel und Hoffnungslosigkeiten unserer Zeit, unserer
Geistigkeit, unserer Kultur. Er ging bis ans Herz alles Menschen-
tums, er sprach beredt in einer einzigen Sekunde den ganzen
Zweifel eines Denkers, eines vielleicht Wissenden aus an der
Würde, am Sinn des Menschenlebens überhaupt. Dieser Blick sag-
te: ›Schau, solche Affen sind wir! Schau, so ist der Mensch!‹, und
alle Berühmtheit, alle Gescheitheit, alle Errungenschaften des
Geistes, alle Anläufe zur Erhabenheit, Größe und Dauer im
Menschlichen fielen zusammen und waren ein Affenspiel!«
Harry Haller ist der Bote aus der Vergangenheit, der durch die
Gegenwart wie durch ein Exil hindurch in die Zukunft geht, der
den Geist durch geistlose Zeiten trägt – so Hesses Utopie. Daran
wird Harry Haller zu einem »Genie des Leidens«, und Hesse wie-
derholt dieses Nietzsche-Wort mit Wohlgefallen, denn der Step-
penwolf, das ist er natürlich selbst in seinem ruhelosen
winterlichen Streifen durch die nächtliche Amüsierwelt ↑ Zürichs.
Das Buch von Harry, dem zwischen zwei Zeiten Geratenen, fand
und traf seine Leser. Das hatten sie von dem Idylliker Hesse nun
doch nicht erwartet. Aber Hesse hatte zuvor seine neue harte Kul-
tur- und Selbstkritik schon mehrfach angedeutet. Lachen lernen
über das falsche Pathos, und alles Pathos, was sich nicht durch
Schmerz rechtfertigt, ist falsch, das ist jetzt das oberste Aufklä-
rungsziel des Romantikers Hesse. Den Schein der falschen Wirk-
lichkeit weglachen und sich mit eigenen Phantasiebildern gegen
die mörderische Macht der Fakten wappnen. Und am Ende der
eigenen Hinrichtung zusehen, die ausfällt oder unter verschärften
Bedingungen stattfindet, wie man will, als großes Ausgelachtwer-
den. Harry Haller ist der ↑ Kurgast, de n es ins »magische Theater«
verschlägt. Denn alle Kur hat ihn nicht von seiner Krankheit heilen
können. Er muß es sich nun von Mozart sagen lassen: »Sie haben
aus Ihrem Leben eine scheußliche Krankengeschichte gemacht.«
Natürlich, denn Harrys Krankheit ist die Krankheit der Zeit selber,
wie sie schon Nietzsche an sich spürte: die Entwertung aller Wer-
te.
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