Heuchler
herum. Außerdem war sie diese Dunkelheit nicht gewohnt, denn zu Hause stand genau vor ihrem Fenster eine Straßenlaterne, die immer für ein dämmriges Licht in ihrem Zimmer sorgte. Hier hatte sie noch nicht einmal einen leuchtenden Wecker und nur der schwache Schein des Mondes sorgte dafür, dass es nicht völlig dunkel war.
Gegen halb vier schreckte Katja erneut hoch und verfluchte sich, zum Abendessen so viel getrunken zu haben. Sie wollte sich nicht durch das stille, dunkle Haus bis zur Toilette vortasten und versuchte, ihre volle Blase zu ignorieren. Zehn Minuten später gab sie es auf und verließ ihr Bett. Zum Glück leuchtete im Wohnraum die Digitalanzeige einer nicht mehr ganz neuen Mikrowelle, wodurch sie es, ohne gegen irgendetwas zu stoßen, bis in das Bad schaffte.
Auch der Rückweg ging ganz gut, und als sie wieder in ihr Zimmer trat, flatterten die dünnen, fast durchsichtigen Vorhänge im Luftzug. Doch etwas irritierte sie. Und dann wusste sie auch was. Es hatte vorher keinen Schatten vor ihrem Fenster gegeben, es war vollständig und gleichmäßig von dem schwachen Nachtlicht erhellt gewesen. Jetzt aber war die untere rechte Ecke dunkel! Katjas Herz machte einen Satz und mit einem Mal schnürte es ihr den Hals zusammen. Was sollte sie tun? Unschlüssig blickte sie zurück in den Wohnraum, und als sie wieder zum Fenster sah, war der Schatten verschwunden. Es dauerte noch mindestens zwei Minuten, in denen sie einfach nur dastand und überlegte. Ihr Vater wäre nach diesem langen Tag sicher begeistert, wegen einer Nichtigkeit geweckt zu werden! Immer noch leicht zitternd wagte sie es, die drei Schritte bis zum Fenster zu gehen, hielt sich dabei aber eng an der Wand. Dann nahm sie allen Mut zusammen und zog den Vorhang beiseite. Fast direkt vor ihrem Fenster begann die große Wiese, durch die der Zufahrtsweg bis vor das Haus führte. Rechts von ihr stand das Auto und weiter hinten begann das Dickicht des Waldes. Links von ihrem Fenster zog sich die Wiese bis an die Kante, von der es ziemlich steil bis zum See hinunterging. Sonst war nichts zu sehen! Sie überlegte noch kurz, ob sie das Fenster ganz öffnen sollte, um bis an die Hauswand sehen zu können, beschloss dann aber, dass sie sich getäuscht haben musste, und zog den Vorhang wieder zu. Dann legte sie sich ins Bett und fiel endlich in einen tiefen, erholsamen Schlaf.
Felix’ Schlaf hatte, wie immer, nichts stören können, und wie zu Hause auch stand er morgens als Erster auf. Die Digitalanzeige der Mikrowelle sagte ihm, dass es gerade einmal 7 Uhr war und er noch mindestens eine Stunde warten musste, bis wenigstens seine Mutter aufstehen würde.
Leise schlich er zum Kühlschrank und holte sich den Rest des fertigen Kakaos, den sie für die Fahrt mitgenommen hatten. Dann schob er die leise knarrende Terrassentür zurück und trat hinaus.
Der Morgen war empfindlich frisch, aber die klare Luft vertrieb den letzten Schlaf aus seinen Knochen. Felix griff sich seine Jacke und ging bis zum Ende des Gartens, der sich nur deshalb von der großen Wiese abhob, weil er frisch gemäht war. Einen Zaun oder eine sonstige Begrenzung gab es nicht, was aber auch keinen Sinn gemacht hätte, denn außen herum gab es nichts, außer Natur. Direkt nach dem Garten fiel die Böschung steil bis zum See hinunter ab und endete an einem unberührten Kiesstrand. Ich brauche eine Angel! , stellte Felix für sich selbst fest und überlegte, wie viel Geld nach dem Taschenmesser, das er sich auf der Fähre gekauft hatte, noch übrig war.
Nachdem er sich an dem phantastischen Anblick des Sees satt gesehen hatte, drehte er sich um und ging zurück zum Haus. An der Grenze von Wiese und gepflasterter Terrasse stutzte er. Etwas unter einem Busch versteckt, und nur von dieser Seite aus sichtbar, lag ein Büschel Haare.
Felix schluckte, denn auch er hatte den Zeitungsartikel über die Kindermorde gesehen und wusste, dass den Leichen die Haare abgezogen wurden.
»Guten Morgen!«, riss ihn die Stimme seines Vaters aus seinen Gedanken und ließ ihn zusammenzucken. Dann sah er hoch.
»Was hast du?«, fragte Mike. »Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen!«
Felix zeigte auf den Busch und sagte mit einer Stimme, so leise, als dürfte er nicht entdeckt werden: »Da liegen Haare.«
Mike runzelte die Stirn und ging zu seinem Sohn hinüber: »Wo?«
Felix deutete auf die Stelle, worauf Mike in die Hocke ging und den Fund betrachtete. Dann nahm er sich einen kleinen Stock, der in
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