Heute bin ich blond
einer ausdauernden Session vor dem Spiegel mit Annabels Haarbändern und dem Haarlack aus einer komischen weißen Flasche, die ich gratis zu meiner Perücke dazubekommen habe, gehe ich um die Mittagszeit in die Küche hinunter. Meine Mutter und ihre Freundin Maud sitzen dort und trinken Kaffee. Ich lächle, gebe Maud einen Kuss, setze Wasser auf und verschwinde wieder vor den Spiegel.
»Echt, wie ein Ei dem anderen«, fährt Maud fort. Meine Mutter strahlt. Ich kratze mich verärgert am Kopf, ein wütender Versuch, das Jucken wegzukriegen. Die letzten Haare müssen jetzt wirklich ab, denke ich.
Vor mir auf der Kommode liegt ein großer Kalender, so ein Terminplaner. Der steht nun ganz im Zeichen der nächsten vierundfünfzig Wochen Chemo und Bestrahlung. Unsere vierundfünfzig Wochen. Eine Woche nach der anderen wird abgehakt.
In der neunten Woche habe ich meine erste Kontrolluntersuchung, um zu sehen, ob die Kotzerei für irgendwas gut war. Mir graut. Ich spüre eine neue Angst. Sie kommt immer näher, sosehr ich auch versuche, sie zu verdrängen. Dass meine Zukunftsperspektiven an dem Tag auch eine positive Wendung nehmen können, wage ich nicht zu hoffen, sonst trifft mich der Schlag nur umso härter. Ich rechne also mit dem schlimmsten Szenario: Es geht zu Ende mit mir.
Ich nehme unsere Katze Saartje auf den Arm, drücke sie an mich und frage mich, wer von uns beiden wen überleben wird. In diesen Wochen tritt der Tod zum ersten Mal wirklich in mein Bewusstsein. Das Menschsein als Teil eines größeren Ganzen, der natürliche Prozess des Geborenwerdens und Sterbens. Das nimmt mir etwas von meiner Unsicherheit, es macht das Sterben weniger fremd, bedrohlich, unheimlich. Schade nur, dass wir nicht gleichzeitig gehen.
Heute habe ich zum ersten Mal außer der Wimperntusche auch meine Perücke eingepackt. Ich laufe in den weichen Puschen meiner Mutter und dem flauschigen weißen Bademantel herum, den ich vom nettesten Freund der Welt bekommen habe. Leider ist er nicht mein Freund, sondern der Freund meiner Schwester. Aber ich habe auch was davon. Der Film, der sich jetzt in meinem Leben abspielt, handelt vom Kriegen, Kriegen und nochmals Kriegen. Ob es nun Blumen, iPods oder liebevolle Umarmungen sind. Ich selbst habe im Moment nicht viel zu geben.
Ich fühle mich schlapp und schwer, obwohl von meinem Gewicht nicht mehr viel übrig ist. Die Waage sagt: wieder ein Kilo weniger. So geht das diese Woche fast täglich. Ich habe die ideale Diät gefunden: Angst, Stress und Tumorschweiß. Das mit dem Nachtschweiß hat schon vor ein paar Monaten angefangen, aber so stark wie jetzt war es noch nie. Ich wache jede Nacht mehrmals auf, klatschnass und fröstelnd. Ein hohler Bauch, zuckende Rippen. Alles durchweicht, verschwitzt, tränennass. Etwas geschieht in meinem Leben, was ich nicht im Griff habe. In solchen Momenten ist meine Angst am größten und meine Krankheit ganz nah.
»Tumorfieber« nennt sich das. Es kommt jeden Abend gegen neun. Heute Nacht um vier habe ich wieder ein verschwitztes T-Shirt ausgezogen. Es stank nach Tumorschweiß. Neben meinem Bett lagen noch vier andere T-Shirts, zwei schmutzige, nasse und zwei saubere, trockene. Jeden Morgen richten sich alle Augen auf den Berg feuchter T-Shirts neben meinem Bett. Wenn er kleiner wird, verkleinern sich die Tumoren in meinem Körper, dann schlägt die Chemo an. Meine Mutter nahm ein trockenes T-Shirt und half mir hinein.
In diesen Wochen schlafe ich wieder bei meinen Eltern am Fußende, wie früher Klein-Sophie. Wenn ich aufwache, fühle ich mich am schlechtesten: verängstigt, schwach und allein, obwohl meine lieben Eltern bei mir sind. »Ich hab Angst, Pap.«
»Du bist mein Ein und Alles, Sophie.« Mein Vater nahm mich in die Arme.
Ich ließ mich angstvoll in seine Umarmung fallen. Alles an mir klebte. Nicht lange, und meine Mutter kam dazu. »Was ist, wenn ich sterbe?« Ich klammerte mich an meinen Vater und schaute über seine Schulter durch einen Spalt zwischen den Vorhängen nach draußen. Der Spalt war gerade so breit, dass man ein kleines Stück Nacht sehen konnte. Einen kahlen Baum, einen Streifen Mondlicht, im Hintergrund Dunkelheit.
»Du stirbst nicht.« Die Stimme meiner Mutter.
»Und wenn doch? Wenn die Tumoren nicht weggehen? Ich hab solche Angst vor der Untersuchung.« Nicht nur meine Augen weinten, auch mein Bauch weinte, mit zuckenden Bewegungen.
»Wir auch, Sophie, wir auch.« Mein Vater sah mich niedergeschlagen an. Ich finde es
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