Heute Und in Ewigkeit
nur noch drei Tage. Zu Hause drehte Cassandra schier durch und versprühte dabei Therapiefunken. Die bevorstehende Entlassung meines Vaters lastete auf mir wie ein übler Scherz. Merry sackte unter dem Gewicht schon zusammen, und ihr Blick bettelte mich um Hilfe an, obwohl sie das Thema nicht wieder angesprochen hatte. Drew und ich kamen uns wieder näher, doch seine ständige Überwachung unserer Tochter erinnerte mich daran, welch dünnes Eis meine Lügen waren, auf denen wir alle standen.
Ich war froh, in der Klinik zu sein.
Vor dem Untersuchungsraum, in dem Audra mich erwartete, überflog ich die neuesten Ergebnisse und schob dadurch das Unvermeidliche hinaus. Die experimentellen Medikamente der Studie hatten zwar den Krebs an der weiteren Ausbreitung gehindert, zugleich aber ihr Herz geschädigt.
Sophie tippte mir im Vorbeigehen mit einer Patientenakte an den Arm. »Ich habe schon reingeschaut und Audra Hallo gesagt. Sie ist bereit und kann es kaum erwarten.«
»Ich weiß.« Ich hörte selbst, wie angespannt ich klang.
»Ist mir schon klar«, erwiderte Sophie. »Aber weißt du auch, dass du nicht jeden einzelnen ihrer Atemzüge in der Hand hältst? Dein ärztlicher Gottkomplex gerät allmählich außer Kontrolle. Bitte, entspann dich ein bisschen. Du siehst furchtbar aus.«
Ich runzelte die Stirn und suchte die Patientendaten nach einem Wunder ab. »Ich mag Audra.«
»Ich mag sie auch und will, dass sie weiterlebt. Ich wünsche mir, dass alle unsere Patienten weiterleben, aber wegen dieser Patientin machst du dich fix und fertig. Was hast du nur?«
Immer wieder brodelten Szenen aus meiner Kindheit in mir hoch, seit ich von der bevorstehenden Entlassung meines Vaters erfahren hatte. Selbst, als ich mit Audras Akte auf dem Flur stand, hörte ich meinen Vater an die Tür klopfen. Ich hatte den metallischen Geruch von Blut, vermischt mit Bier, in der Nase.
»Es ist nichts«, sagte ich. »Nur dass Audras Mann vor so kurzer Zeit verstorben ist, und ihre Kinder, einfach alles … es ist nichts.«
Sophie tat nicht einmal so, als hörte sie meinem Geschwafel zu. »Unternimm dieses Wochenende etwas Schönes, ja? Du hast vier ganze Tage frei.«
»Natürlich, das macht einen Tag kochen und drei Tage putzen.«
Sie schnaubte. »Zumindest wohnst du nicht mit Monstern zusammen. Stell dir bitte mal Thanksgiving mit meinen Jungs vor.«
»Stimmt.« Ich klopfte an die Tür zum Untersuchungsraum, ehe ich eintrat. »Manchmal vergesse ich, wie gut ich es habe.«
Audras kantige Wangenknochen standen hervor wie bei einem Skelett. Durch ihr schütteres rotes Haar waren Sommersprossen auf ihrer Kopfhaut zu erkennen. Die übersteigerte Pigmentproduktion hatte auch dunkle Flecken auf ihrer Brust hervorgerufen. Diese vorübergehenden Nebenwirkungen von Audras Behandlung machten mir keine Sorgen, aber ich war wenig zuversichtlich, was ihren geschwächten Herzmuskel anging.
Ich legte ihr leicht die Hand auf den Arm. »Wie fühlen Sie sich?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Sie haben mir gesagt, dass der Krebs jetzt kaum noch wächst. Das ist doch positiv, oder?« Als sie mich zum Stethoskop greifen sah, zog sie das Untersuchungshemd so weit herunter, dass ich ihre spitzen Schulterknochen sehen konnte.
»Ja. Das sind sehr gute Neuigkeiten.« Ich wärmte das Stethoskop an und drückte es dann an ihren Rücken. »Einatmen. Luft anhalten.« Ihr schwerfälliger Atem und der verlangsamte Herzschlag klangen ähnlich wie bei der Untersuchung vergangene Woche.
Sie wartete, bis ich sie fertig abgehorcht hatte, ehe sie fragte: »Aber mit meinem Herzen wird es schlimmer?«
»Bisher ist mir keine Veränderung gegenüber der letzten Woche aufgefallen. Aber Sie haben wieder ein Pfund abgenommen.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich kann kaum etwas essen, und wenn ich es doch schaffe, übergebe ich mich entweder, oder es kommt blitzartig zum andern Ende wieder heraus.«
Ich drückte ihren Knöchel, um eventuelle Ödeme zu erkennen, die auf eine Verschlechterung der Herztätigkeit hinweisen würden. »Keinerlei Schwellung. Das ist gut.«
»Traci, meine Jüngste, ist richtig wütend. Sie glaubt, die Behandlung würde mich umbringen. Darf sie Sie anrufen?« Audra packte mich am Arm, als ich nicht gleich antwortete. Ihre feinknochige Hand war inzwischen so schmal und dünn, dass sie einer Klaue glich. »Bitte? Sie müssen mit meiner Tochter sprechen. Sie braucht jemanden, der sie beruhigt, aber ich habe solche Angst, dass ich ihr nicht
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