Heute Und in Ewigkeit
Kaffee und weckte dann die Kinder mit einer neugeborenen, unbeschwerten Mutter-Aura. Außerdem tat ich alles, um nicht mit Merry allein sein zu müssen, denn ich konnte das Wissen nicht ertragen, dass ich sie nicht sich selbst überlassen sollte. Aber das war mir egal, so stark war der Drang, dem Albtraum zu entfliehen, dass mein Vater bald rauskommen würde.
Merry hatte meinen Wunsch oder vielmehr meine Warnung respektiert, dass ich es Drew selbst sagen wollte, wenn ich so weit war. Aber ich hatte ihr noch nicht erzählt, dass ich es ihm bereits gesagt hatte. Das würde es allzu wirklich machen.
Ich verdrängte meinen Vater aus meinen Gedanken und lebte in einer Welt, in der Milch und Honig flossen.
Am dritten Montag im Dezember begann ich zu bröckeln. Alle wachten in halber Panik auf. Ruby musste eine Buchbesprechung abgeben und hatte weder die Blätter zusammengeheftet noch Vorder- und Rückseite bunt bemalt. Cassandra brauchte ein Geburtstagsgeschenk für eine Party, zu der sie am folgenden Tag eingeladen war, und fürchtete, wir könnten es vergessen. Drew hatte einen Termin mit einem Kunden und vielleicht die Chance, die neue Buchreihe einer halbwegs berühmten Kinderbuchautorin zu illustrieren. Er hatte das ganze Wochenende lang Skizzen von einem Stamm magischer Umweltkrieger-Streifenhörnchen gemacht. Ich fand sie großartig, aber er fügte ständig hier noch einen Grashalm ein und radierte dort eine Eichel wieder weg.
Was mich anging, so hatte Audra einen Herzinfarkt erlitten und das halbe Wochenende auf der Intensivstation verbracht. Ihre Kinder hatten mich am Telefon belagert, mich um Vorhersagen bedrängt, auf die sie sich verlassen konnten, als Ärztin und Wahrsagerin. Denton war verreist gewesen, und keiner der diensthabenden Onkologen hatte die Entscheidung treffen wollen, das Krebsmedikament abzusetzen – eine Entscheidung, die Audra retten und zugleich töten könnte. Sie kennen sie doch am
besten , hatte der letzte Onkologe gesagt.
»Hast du mich gehört, Lulu?«
»Wie bitte?«
»Vergiss nicht, dass du heute die Kinder abholen musst.« Drew sah nervös aus. »Ich rufe noch mal an und erinnere dich daran.«
»Glaubst du wirklich, ich würde vergessen, die Kinder abzuholen?« Ich sah zu, wie die Mädchen ihre Frühstücksflocken schlürften. Rubys Miene drückte aus, dass sie alles Schlechte für möglich hielt, während Cassandra ihr Dr.-Johanna-sagt-es-istalles-in-Ordnung-Gesicht beibehielt.
»Ich muss die Vorderseite von meiner Buchbesprechung noch fertig malen«, sagte Ruby.
»Ich stelle den Wecker an meiner Armbanduhr und rufe dich rechtzeitig an, Lulu«, sagte Drew.
»Du wirst mitten in deiner Präsentation sein, Herrgott noch mal«, erwiderte ich. »Mädchen, beeilt euch. Wir müssen gleich los.«
»Ich kann die Uhr auf Vibration stellen. Außerdem ist es ja keine offizielle Präsentation.«
»Ich bin noch nicht mit meinem Deckblatt fertig«, schrie Ruby. » NIEMAND HÖRT MIR ZU !«
»Wir können gar nicht anders, als dich zu hören. Aber jetzt hört mir mal zu. Und zwar alle.« Ich zeigte auf Cassandra, die den Mund geöffnet hatte – zweifellos, um dafür zu sorgen, dass ihre Bedürfnisse auch auf die Liste kamen. »Ruhe. Drew, ich hole die Kinder ab. Konzentrier du dich darauf, dich gut zu verkaufen. Ruby, Abmarsch ins Wohnzimmer und mach dein Deckblatt fertig, Daddy kommt gleich und hilft dir. Und Cassandra, wir schauen auf dem Heimweg in der Cambridgeside Galleria vorbei und besorgen das Geschenk.«
»Darf ich mit?«, fragte Ruby. »Krieg ich ein Spielzeug?«
»Alles, was du willst, Schätzchen.« Mir das Glück meiner Kinder zu erkaufen, klang heute nach einer ausgezeichneten Idee.
Audras jüngste Tochter Traci roch nach schalem Zigarettenrauch. Sie klammerte sich an meinem Arm fest, als ich versuchte, vom Bett der Patientin zurückzutreten. Audras Werte hatten sich in den vergangenen Stunden extrem verschlechtert. Die Familie wartete auf den Onkologen, der heute Rufbereitschaft hatte – ein Mann, den sie erst einmal zuvor gesehen hatten.
»Bitte, Doktor Zachariah.« Traci heftete die hellblauen Augen an meine. »Bleiben Sie, bis er kommt. Es ist so schwer, mit ihm zu reden, er schüchtert uns alle ein. Sie sind die Einzige, der Mom vertraut.«
»Hör auf, Traci«, mischte Audra sich mit schwacher, näselnder Stimme ein. »Das ist sehr unhöflich.«
»Ich bin nicht unhöflich, Ma.« Sie hielt sich am Seitengitter des Betts fest. »Sag du es ihr, Owen«, bat sie
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