Heute Und in Ewigkeit
»Wir müssen das richtig machen. Ernst, wie in der Schule.«
»Was hast du denn in der Schule gesagt?« Ich lenkte die Unterhaltung nur zu gern von Thanksgiving bei den Cohens weg, was allzu leicht zu Thanksgiving im Duffy führen könnte. Im Heim, wo Preiselbeeren aus der Dose aufrecht in angeschlagenen Schüsseln standen und an den steifen roten Türmen noch die Dosenrillen zu sehen waren. Die Einzigen, die dieses metallisch-säuerliche Zeug aßen, waren die dicken Mädchen, die so verzweifelt versuchten sich auszufüllen, dass sie noch die Dose ausgeleckt hätten. Wir kratzten jedes bisschen der kleinen Portionen Truthahn mit wässrigen Stampfkartoffeln von unseren Tellern und blickten dabei nur auf unser Essen hinab, als schämten wir uns, in so ärmlicher Gesellschaft gesehen zu werden.
Ruby blies sich wichtig auf. »Ich habe gesagt, dass ich natürlich dankbar für meine Familie bin, weil alle mich so lieb haben. Und dass ich dankbar bin, dass niemand, den ich kenne, im World Center gestorben ist. Und dass Osama Laden nicht nach Cambridge gekommen ist.«
Vielleicht hatten Cassandras Ängste gar nichts mit mir zu tun oder damit, dass ich unbewusst ihren Geist vergiftete. Vielleicht war der elfte September das eigentliche Problem. Alle Kinder warteten jetzt auf die nächste Katastrophe. Die brauchte gar nicht aus unserem Wohnzimmer zu kommen.
»Das ist sehr schön, Ruby«, sagte Merry.
»Wofür bist du dankbar, Daddy? Und sag jetzt nicht für das Essen«, warnte Cassandra.
Drew legte sein Messer weg und lehnte sich zurück. »Alles, wofür ich dankbar bin, ist hier in diesem Raum. Gute Sachen zu wiederholen, ist schon in Ordnung, Ruby.«
»Daddy hat genau das Richtige gesagt. Und jetzt wollen wir das Essen genießen, für das wir alle so dankbar sind.« Ich liebe dich, Drew. Du rettest mich immer wieder.
Cassandra nahm einen kleinen Bissen Füllung auf die Gabel. Ihr zitterndes Kinn ließ sentimentale Tränen befürchten. »Fühlst du dich immer noch wie eine Waise, Mommy? Musst du oft an deine Mutter und deinen Vater denken?«
Jesus, Maria und Joseph, erlöset mich von meiner Vergangenheit. Unsere tägliche Zukunft schenkt uns heute. Lieber Gott, gib mir ein, was ich sagen soll. Gewähre mir eine friedliche Vergangenheit. Ich will mich endlich ausruhen.
»Manchmal denke ich an sie«, brachte ich mühsam hervor, »aber nicht oft.«
Cassandra neigte den Kopf zur Seite, und aus ihren Augen strahlte ein Wissen, das sie begeisterte – zweifellos noch mehr Weisheiten von Doktor Johanna, die unserem Leben einen bestimmten Anstrich gaben. »Tut es weh, über sie zu reden? Aber sie leben ja in deinem Herzen, also hast du sie immer bei dir. Richtig? Also ist alles in Ordnung. Oder?«
Ich trank ein halbes Glas Wasser, um die Worte über meine trockenen Lippen zu bringen. »Aber natürlich.«
»Dann ist für uns alle alles in Ordnung, oder?«, drängte Cassandra.
Ruby biss in Zeitlupe in ein Brötchen, Krümel fielen unbemerkt auf die Tischdecke, während sie auf meine Antwort wartete. So oft sich die Mädchen auch streiten mochten, sie lebten in einer Welt emotionaler Primogenitur, und Cassandras Urteil galt.
Drew presste die Hände zusammen, die Finger weit ausgebreitet. »Alles ist in Ordnung. Wir sind alle traurig darüber, dass die Eltern von Mommy und Tante Merry so früh gestorben sind, aber das war eine einmalige Tragödie. Uns allen geht es gut.« Seine letzten Worte klangen bestimmter, als er vermutlich beabsichtigt hatte.
Die Mädchen zuckten zusammen wie schreckhafte Kätzchen.
Drew grinste, um seine düstere Botschaft aufzulockern, und häufte sich Füllung auf den ohnehin schon vollen Teller. »Bald feiern wir Weihnachten, und ihr bekommt einen Haufen Geschenke von Oma und Opa Winterson. Lassen wir die Vergangenheit ruhen. Denken wir lieber daran, was noch passieren wird , ja?«
Ich würde mir Drews Worte nur zu gern zu Herzen nehmen. Im Jetzt leben, ganz in der Gegenwart sein. Wen kümmerte es schon, dass das wie esoterisches Getue klang, ich musste aufhören, Angst und Grauen an meine Kinder weiterzugeben, ob wissentlich oder nicht. Vielleicht hatte ich den Mädchen unbewusst die grimmigen Märchen der Familie Zachariah eingeflüstert. Ich würde mich selbst umerziehen. Ab sofort würde ich nicht mehr an der Tür wachen und nach Schreckgespenstern Ausschau halten.
Zwei Wochen lang schaffte ich es, meinen Schwur zu halten. Ich pfiff fröhlich vor mich hin, wachte vor Drew auf, brachte ihm
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