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Heute Und in Ewigkeit

Titel: Heute Und in Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Randy Susan Meyers
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stapfte, den Kopf nach vorn gebeugt. Binnen Sekunden färbte sich mein knielanger Daunenmantel dunkel, denn der Stoff hatte alle Mühe, die Feuchtigkeit abzuhalten. Mitwandernde, in zahlreiche Schichten gehüllt, gingen an mir vorbei, die nassen, roten Gesichter gesenkt. Alle sahen aus wie überfressene Maulwürfe.
    Der feuchte Geruch nach schneegetränkter Kleidung stieg von mir auf, als ich die warme Lobby der Klinik betrat. Ich nickte dem Zeitungsverkäufer zu, wickelte den Schal ab und vergrub den Hut in meiner großen Handtasche.
    »Frohes neues Jahr, Doktor Winterson«, sagte der Zeitungsmann.
    »Ihnen auch, Kelly.« Ich wusste immer noch nicht, ob Kelly sein Vor- oder Nachname war.
    »Die Mädchen okay?«
    »Es geht ihnen schon besser, danke.« Dass wir in den Nachrichten erschienen waren, hatte meine Familie zum Objekt öffentlichen Interesses gemacht. Das, wovor mir mein Leben lang gegraut hatte, war eingetreten: Die Zeitungen hatten mir meine Privatsphäre entrissen. Nach dem ersten traumatisierten Schweigen löcherten die Kinder mich nun mit Fragen über ihren Großvater und ihre Großmutter. Sie hatten noch nicht gefragt, ob sie meinen Vater kennenlernen durften, aber der Tag würde sicher kommen. Das einzige Geheimnis war, wann.
    Ich bemühte mich, nicht wütend auf Merry zu sein. Das war ich wohl auch nicht, aber alles fühlte sich so anders an. Merry hatte mein Leben aus seiner gewohnten Bahn gestoßen.
    Die Hospizabteilung signalisierte zwar den nahen Tod, war mir aber mehr Trost und Zuflucht als die restliche Klinik. Ohne blinkende, zischende Geräte und mit weniger Schlauchgewirr um die Betten stellte sich wieder ein Gefühl von Menschlichkeit ein. So gebrechlich und schwach Audra auch erscheinen mochte, hier sah sie wieder aus wie ein Mensch, nicht wie ein Experiment in medizinischer Notschlachtung.
    Audra schien zu schlafen, doch sobald ich den Raum betrat, öffnete sie die Augen. »Doktor«, flüsterte sie. Audra war so dünn, dass sie beinahe durchscheinend wirkte. »Danke, dass Sie gekommen sind.«
    »Sie brauchen mir nicht zu danken.«
    »Sie haben eine schwere Zeit hinter sich.« Die Patientin hustete und hatte Mühe, wieder zu Atem zu kommen. »Ihre armen Töchter.«
    »Machen Sie sich keine Sorgen. Den Mädchen geht es gut.« Vorsichtig berührte ich ihren Knöchel.
    »Und Ihnen?« Aura streckte sich nach meiner Hand, und ich gab sie ihr, möglichst sanft, weil sie von der leichtesten Berührung blaue Flecken bekam. »Kinder bringen uns Gott näher, aber manchmal so nahe, dass wir uns an seinem Glanz verbrennen. Alle meine schwersten Augenblicke, in denen ich wahrhaftig dachte, ich sterbe vor Angst, hatten mit meinen Kindern zu tun.«
    Den Brieföffner zu sehen, den der Mann Ruby an die Kehle gedrückt hatte, hatte mir mehr Angst gemacht als damals Teenies Schürze, die sich mit Mamas Blut vollsog. Mehr als der Anblick von Merry, die fast von meines Vaters Hand gestorben wäre, und der wäre schon beinahe mein Ende gewesen. Ein Leben ohne Ruby oder Cassandra war für mich unvorstellbar. Natürlich lebten Menschen ohne ihre Kinder weiter, aber wie? Woher nahmen sie die Kraft dazu?
    Wie hatte mein Vater es fertiggebracht, mit einem Messer auf sein eigenes Kind einzustechen?
    Merry behauptete immer, sie könne sich an nichts erinnern. Das fand ich schwer zu glauben. Hatte sie ohne Unterlass geschrien und geschrien, während ich Teenie geholt hatte? Hatte sie gesehen, wie mein Vater meine Mutter ermordete? Hatte sie zugesehen? Hatte mein Vater deshalb versucht, Merry und sich umzubringen, um den Schmerz dieses Wissens zu tilgen, dieses Bild auszulöschen?
    Ich musste es wissen.
    Ein Waschlappen lag in einer Schüssel mit Eiswasser. »Draußen schneit es wie verrückt«, erzählte ich, wrang den Lappen aus und wischte Audra die Lippen ab.
    »Machen Sie die Jalousie auf. Ich möchte es gern sehen.« Audra wandte den Kopf zum Fenster. Ich ließ das graue Licht herein und schob ihr ein paar Kissen in den Rücken. Die breite Fensterfront gab den Blick auf den wirbelnden Schneesturm frei. Still saßen wir da und schauten hinaus.
    »Es ist wunderschön«, sagte Audra. »Gottes Werk.«
    Ich beneidete Audra um den Trost des Glaubens. »Es ist nur schön, wenn man nicht darin herumlaufen muss. Ich hätte nichts dagegen, wenn Gott die Schneestürme weglassen würde.«
    »Alles hat seinen Platz im Universum.«
    »Kriege? Kinder, die sterben?« Ich sah zu, wie der Schnee am warmen Glas schmolz und an den

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