Heute Und in Ewigkeit
Tag.« Ich verschränkte die Finger mit den starken Fingern meines Mannes. »Zu wissen, dass du hier sein wirst, wenn ich herauskomme, reicht schon.«
Ich wollte die Tür öffnen, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne und platzte mit den Worten heraus, die mich seit 1971 erstickten. »Ich dachte immer, ich sei schuld an Mamas Tod.«
»Warum?« Indem Drew sich nicht beeilte, mir zu sagen Nicht doch! oder Das ist unmöglich , sondern nur fragte, warum , machte er mir ein Geschenk und gab mir einen weiteren Grund, ihn zu lieben.
»Als Mama gesagt hat, ›hol Hilfe, schnell, er hat ein Messer, er will mich umbringen‹ …« Ich verstummte und schlug mir die Hand vor den Mund.
»Was auch immer du sagst, es ist in Ordnung. Du bist in Ordnung.« Drew rieb mir mit kleinen Kreisen den Rücken. »Es ist alles okay.«
»Ich habe gewartet, Drew. Ich bin einfach erstarrt.«
»Es ist dir vorgekommen wie eine lange Zeit«, sagte Drew. »Aber das war es nicht.«
»Woher willst du das wissen?«
»Weil es ganz egal ist, wie alt du damals warst – ich kenne dich.«
»Wenn ich schneller gewesen wäre, könnte sie vielleicht noch leben.«
»Nein. Du hättest deinen Vater nicht aufhalten können. Du warst ein kleines Mädchen.« Drew umarmte mich.
Ich fühlte mich so erstarrt wie an jenem Tag im Juli, als Teenie und ich den Leichnam meiner Mutter gefunden hatten. Die Arme meines Mannes spürte ich kaum.
Ich stieg aus dem Auto.
Ein scharfer Wind schlug mir ins Gesicht, als ich auf das Schild an der schwarzen Metalltür zuging, auf dem in abblätternder Farbe Besucher geschrieben stand. Merry hatte mir erklärt, was mich erwartete, aber erst, als ich diesen Ort mit eigenen Augen wahrnahm, konnte er Wirklichkeit werden, konnte ich erkennen, wie schwer es für meine Schwester gewesen sein musste hierherzukommen.
Ich hatte nur meine Besuchserlaubnis und eine kleine Packung Taschentücher dabei, beides in der Hosentasche, wie Merry es mir geraten hatte. Sie hatte mich gewarnt, dass auf der Besuchertoilette ständig das Toilettenpapier ausging. Ich stand in der Warteschlange hinter einer dürren, alten Frau. Sämtliches Fett unter ihrer Haut war verschwunden, und sie war so verrunzelt wie ein Dörrapfel. Sie hielt sich an einer lilafarbenen Strickjacke um ihre Schultern fest. Traurige, hängende Locken bedeckten ihren Kopf.
Sie drehte sich zu mir um. »Ehemann oder Vater?«
»Wie bitte?«, fragte ich, erschrocken über ihre Stimme. Ich hatte mir nur Nahaufnahmen von meinem Vater und mir vorgestellt. Andere Figuren waren in dem Film nicht vorgekommen.
»Wen besuchen Sie?« Die Frau klang ungeduldig. Vielleicht gehörte ihre Frage hier zum Routineprogramm. Merry hatte mir nicht gesagt, dass die Leute sich in der Warteschlange unterhielten. Wenn ich überhaupt daran gedacht hatte, hatte ich mir höchstens vorgestellt, dass unsichtbare Mauern aus Scham die Besucher voneinander trennten. »Ihren Ehemann?«, wiederholte sie. »Ich habe Sie noch nie hier gesehen.«
»Meinen Vater.« Die Leute sprachen lieber über sich selbst, als anderen zuzuhören, also stellte ich eine Frage, weil ich annahm, dass die Frau etwas loswerden wollte. »Und wer führt Sie hierher?«
Sie schnaubte. »Mein Sohn. Der Fluch meines Lebens.«
Warum war sie hier, um ihren Fluch von einem Sohn zu besuchen? Was hatte ihr Sohn getan? Ich kannte die Gefängnis-Etikette nicht, wusste nicht, was die Frauen untereinander austauschten, und es waren fast nur Frauen da. Die Währung spielt in jeder Gesellschaft eine Rolle, und man muss wissen, wo welche Tauschgegenstände angemessen sind. Ich nickte, als hätte ich Verständnis, und betete darum, es möge schnell vorangehen.
»Er hat mir versprochen, dass er nie wieder reinmuss«, sagte sie. Mein mitfühlendes Nicken ermunterte sie weiterzureden. »Die Drogen – die wird keiner los, den sie einmal gepackt haben, hab ich recht?«
»Allerdings, so ist es«, stimmte ich zu.
»Sie scheinen mir eine gebildete Frau zu sein. Hab ich recht?«
»Ich war auf der Uni.«
»Das habe ich doch gleich gemerkt. Dann wissen Sie ja vielleicht, was mit dieser Welt nicht stimmt. Ist sie einfach nur böse?« Sie tätschelte eine Locke und war offenbar beruhigt über den Sitz der aufgerollten Haare. »Mein Junge hat meine Ringe verkauft.« Zum Beweis hob sie die nackten Hände. »Trotzdem stehe ich hier. Lernen wir denn nie dazu?«
Ich dachte an Omas ewige Treue zu meinem Vater. Würde ich für Cassandra oder Ruby so weit gehen?
Weitere Kostenlose Bücher