Heute Und in Ewigkeit
»Was ist?«
»Du musst ein paar Dinge erfahren.« Oma packte meine Hand. Obwohl sie so zerbrechlich aussah, war ihr Griff sehr fest. »Ich werde nicht mehr ewig da sein, Lulu.«
»Ich kann es nicht ausstehen, wenn du so redest.«
»Psst. Nicht ewig heißt in diesem Fall, gar nicht mehr lang. Der Arzt sagt, mein Herz wäre schon sehr schlecht, und der Zu cker macht alles noch schlimmer. Und meine Augen – ich finde mich kaum noch zurecht. Verzeih, dass ich so etwas sage, Mamelah , aber der Tod wird ein Segen für mich sein. Nur, wer soll sich dann um euren Vater kümmern? Wer passt auf Merry auf?«
»Ich muss aufs Klo, Oma.«
»Du kannst noch eine Minute warten. Hör mir zu. Wenn ich nicht mehr bin, musst du auf deine Schwester aufpassen. Hast du verstanden?«
»Ich passe doch jetzt schon auf sie auf.«
»Werd nicht frech.« Oma quetschte mir die Finger, so fest drückte sie meine Hand.
»Au!« Ich versuchte, die Hand wegzuziehen, aber Oma hielt mich eisern fest.
»Du hütest sie wie deinen Augapfel, hörst du?« Oma ließ mich immer noch nicht los. »Wenn ich nicht mehr bin, bist du für Merry verantwortlich. Ich weiß, du denkst, dass du jetzt schon alles für sie tust – aber glaub mir, das stimmt nicht. Wenn ich nicht mehr bin, wirst du alles sein, was sie noch hat. Du kannst ganz gut auf dich selbst aufpassen, du wirst es immer irgendwie schaffen. Aber sie ist nicht so zäh wie du.«
»Okay, schon gut.« Omas Worte häuften sich schwer in mir an. Warum glaubte eigentlich jeder, ich könnte auf irgendwen aufpassen? Bei Mama hatte ich es doch auch nicht geschafft, oder?
»Denk dran, deine Schwester muss weiterhin euren Daddy besuchen können«, sagte Oma. Ich ignorierte sie und starrte auf meine Knie hinab, und sie versetzte mir eine leichte Ohrfeige. »Schau mich an.«
Ich blickte auf. »Ich habe ja gesagt, ich kümmere mich um Merry, aber wie soll ich sie denn ins Gefängnis bringen? Ich bin erst dreizehn, Oma.«
»Du bist mir vielleicht eine. Wenn ich dir sagen will, was du tun sollst, heißt es, ich bin kein Kind mehr, ich bin schon dreizehn. Und jetzt ist man mit dreizehn auf einmal ein hilfloses Baby?« Oma wackelte tadelnd mit dem knotigen Zeigefinger vor meinem Gesicht und hielt mit der anderen Hand immer noch meine Finger umklammert. »Wir müssen über deinen Vater sprechen.«
Ich fuhr mit der freien Hand über den fadenscheinigen Samtstoff, mal mit dem, mal gegen den Strich. Für Merry mochte ich die Verantwortung übernehmen, aber um ihn würde ich mich nicht kümmern.
»Du hast deinen Vater nicht ein Mal besucht«, fuhr Oma fort. »Nicht ein einziges Mal. Wenn ich sterbe, gehst du ihn besuchen. Hast du mich gehört? Er wird ganz allein auf der Welt sein, er hat nur dich und Merry.«
»War das nicht seine Entscheidung?« Ich kniff mich in den Oberschenkel. Oma und ich sprachen nie darüber, wie Mama gestorben war, dass mein Vater sie getötet hatte, dass er das Messer mit Mamas Blut daran auch Merry in die Brust gestoßen hatte.
»Dein Vater hat etwas Entsetzliches getan. Das will ich gar nicht abstreiten. Aber er ist mein Sohn, und er ist dein Vater. Wenn ich sterbe, kümmerst du dich um Merry und besuchst deinen Vater. Versprichst du mir das?«
»Wie soll ich denn bitteschön da hinkommen?« Ich stellte mir das Gefängnis wie eine Festung vor, in der überall Ratten herumhüpften und Kakerlaken sich als braune Flecken über die Wände bewegten.
»Du bist ein kluges Mädchen. Du findest schon eine Möglichkeit. Ruf Onkel Hal an.«
Machte sie Witze? Tante Cilla und Onkel Hal hatten uns nicht einmal besucht, seit Mimi Rubee gestorben war.
»Es wäre mein Tod, wenn du mir das nicht versprichst«, beharrte Oma.
Ich zuckte mit den Schultern.
Oma drückte noch einmal meine Hand. »Versprich es mir!«
Rasch kreuzte ich die Finger, wand sogar die Beine umeinander. Ich würde niemals ins Richmond-Gefängnis gehen. Niemals.
»Ich verspreche es«, sagte ich. »Ich verspreche es.«
»So ist es recht.« Oma löste ihre Finger und tätschelte mir die Wange. »Denk daran, ein Versprechen ist etwas Heiliges. Gott hört alles. Wenn du ein Versprechen brichst, weiß Gott allein, was dir widerfahren kann. Aber keine Sorge, ich bin sicher, du wirst dein Wort halten.« Sie neigte den Kopf zur Seite und lächelte mich anerkennend an. »Ich sehe deinen Vater in deinem Gesicht. Das ist mir ein Trost. Ich werde ruhiger sterben, wenn ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann.«
Am nächsten
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