Heute Und in Ewigkeit
zwanzig oder dreißig Jahren.« Ich beobachtete das Gesicht meiner Schwester genau.
»Vermutlich wird er dann noch leben. Außer, jemand bringt ihn im Gefängnis um.«
»Sag so was nicht.« Ich zog die Knie hoch, senkte das Kinn und versteckte mein Gesicht. »Vermisst du es gar nicht, Eltern zu haben, Lu?«, fragte ich den Schorf an meinem Knie.
»Ich denke einfach nicht darüber nach.« Lulu stupste mich mit dem Fuß an. »Und das solltest du auch nicht. Vergiss es. Das ist vorbei. Komm schon, lass uns runter in den Pausenraum gehen. Wir spielen Cluedo.«
»Glaubst du, ich könnte hier drin sterben?«, fragte ich.
Lulu packte mich bei den Schultern und zog mich hoch. »Warum fragst du?«
»Was, wenn mich hier drin jemand umbringt?«
Das hatte ich eigentlich gar nicht fragen wollen. Eigentlich meinte ich, was, wenn ich jemanden umbrachte? Dann würde ich ein echtes Knastmädchen werden.
»Ich finde es grässlich hier. Ich will hier nicht aufwachsen.« Ich stieß Lulu von mir und ließ mich wieder aufs Bett fallen. »Ich wäre lieber tot, als hier zu leben.«
7
Lul u
uf dem Weg zu Oma machte Merry mich wahnsinnig. Bei jedem Schritt hetzte sie mich, schneller zu gehen. Ich konnte mich gar nicht genug beeilen, und sie weigerte sich, mein Schneckentempo mitzumachen. Ich schleppte mich durch den Schneematsch auf der Caton Avenue, als klebten Backsteine an den Sohlen meiner Stiefel – so sehr freute ich mich darauf, Oma zu besuchen.
»Komm schon«, drängte Merry. Sie packte mich am Arm. »Wir müssen um zwölf Uhr da sein. Zum Mittagessen.«
»Lass das.« Ich riss mich los. »Wir sind eben da, wenn wir da sind.«
Merry warf mir unter dem Schlapphut, der ihre jämmerliche Frisur verbarg, einen finsteren Blick zu. Nach drei Wochen sah sie nicht weniger schäbig aus, aber viel größere Sorgen als ihr Haar machte mir das ständige Gerede übers Sterben. Sie musste raus aus dem Duffy. Ich kam dort schon klar, aber Merry war nicht hart genug.
»Sie schaut bestimmt schon aus dem Fenster!« Merry hüpfte um mich herum wie ein Jungvogel, und ihr Zwang, Oma alles recht zu machen, trieb mich in den Wahnsinn. »Beeil dich.«
Oma klebte immer am Fenster, sie stellte den Stuhl so hin, dass sie den Fernseher sehen konnte, aber nur den Kopf zu dre hen brauchte, um auf der Straße Ausschau nach uns zu halten. Samstage waren schlimme Fernsehtage für Oma, keine Gameshows, keine von ihren Serien, aber sie schaute trotzdem fern. Sie sagte, der Fernseher leiste ihr Gesellschaft, während sie auf den Tod wartete. Selbst, wenn sie die riesigen Reader's Digest -Zeitschriften im Großdruck las, die sie sich in der Bibliothek auslieh, ließ sie den Fernseher laufen.
Als wir uns dem roten Backsteineingang des Hauses näherten, in dem Omas Wohnung lag, winkte Merry wild zu Omas Fenster hinauf. »Sie kann dich sowieso nicht sehen«, sagte ich.
»Das weißt du gar nicht sicher.« Merry riss die Tür auf und hatte es immer noch eilig, obwohl wir schon da waren. Der schäbige Eingang roch nach altem Mopp. Ein unordentlicher Haufen Post, die niemand abgeholt hatte, verstopfte die Briefkästen.
»Oma sieht kaum noch etwas.« Ich zupfte am Saum meines kurzen Rocks, als Merry auf die Klingel neben Omas Namen drückte. Ich hatte letzten Monat Mrs. Harold Zachariah auf ein Stückchen Papier geschrieben, weil die Tinte auf dem alten Zettelchen so verblasst war, dass man den Namen nicht mehr lesen konnte. Oma hatte darauf bestanden, dass ich Mrs. hinschrieb, weil sie fand, dass verheiratet respektabler klang. Als ich den frischen Papierstreifen in das Messingschild geschoben hatte, hatte sie gesagt: »Wenn sie wissen, dass ein Mann dich einmal haben wollte, behandeln sie dich besser.«
Oma ließ sich stundenlang darüber aus, dass niemand mehr alte Leute respektierte. Schaut euch nur diese Hippies an, mit Haaren bis zum Po, wie die Schmuddelkinder sehen sie aus. Meinst du, die würden je »Guten Tag, Misses Zachariah« sagen?
Unzählige Studenten lebten zu viert, zu fünft und zu sechst in den winzigen Zwei- und Dreizimmerwohnungen in Omas Haus. Sie beklagte sich darüber, dass sie das Gebäude zum Beatnik-Lager machten. Hippies waren für den Rest der Welt ein alter Hut, nur nicht für Oma, die sie zutiefst verabscheute. Als ich im Juli dreizehn geworden war, hatte sie mir ihren einzigen echten Schmuck geschenkt, ein Paar Perlenohrringe und eine Perlenkette. Dabei hatte sie mir die ganze Zeit einen strengen Vortrag gehalten, dass eine
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