Heute Und in Ewigkeit
um wiedergutzumachen, dass er mich sofort loslassen musste. Am liebsten wäre ich auf seinen Schoß gekrochen und hätte mich an ihn gekuschelt – ganz egal, ob ich schon dreizehn war.
»Guter Gott, bist du aber hübsch. Steh mal auf. Dreh dich herum. Lass dich ansehen.«
Ich wirbelte vor ihm im Kreis herum und war froh, dass ich etwas angezogen hatte, worin ich besonders schön war.
»Du siehst fantastisch aus. Du bist so wunderschön wie deine Mutter, und das ist wahnsinnig toll, Schätzchen.«
Doktor Cohen wirkte verblüfft. Niemand in der Familie sprach jemals über Mama, sie benahmen sich, als sei es eine Todsünde, sie zu erwähnen.
»Sie müssen Doktor Cohen sein«, sagte mein Vater. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«
»Bitte, nennen Sie mich Paul.« Er nahm die Hand, die mein Vater ihm reichte.
»Wie war die Fahrt hier heraus?«, erkundigte sich Daddy, als er auf seiner Seite des Tisches auf die Bank rutschte – der Tisch war wie ein Picknicktisch. Ich setzte mich ihm gegenüber und bedeutete Doktor Cohen, neben mir Platz zu nehmen.
»Gut, gut«, antwortete Doktor Cohen. »Wir sind über die Verrazano-Brücke gefahren. Kaum Verkehr.«
»Sie hatten keine Schwierigkeiten, das Richmond zu finden?«
Doktor Cohens Schultern, die ganz steif gewesen waren, seit wir das Gefängnis betreten hatten, wurden weicher, als Daddy ihn beruhigte. »Gar kein Problem. Das Richmond beschreibt einem den Weg sehr genau.« Er sprach das Richmond aus, als könnte es meinem Vater peinlich sein, wenn er »Gefängnis« sagte.
»Und, wie macht sich mein kleines Mädchen?«
Doktor Cohen schockierte mich, indem er mir einen Arm um die Schulter legte. Er hatte mich noch nie berührt. »Prächtig. Ich habe ihr Zeugnis dabei, aber …«
»Wie hat sie abgeschnitten?«, unterbrach Daddy ihn, vermutlich, damit Doktor Cohen ihn nicht daran erinnerte, dass das Richmond einem nicht erlaubte, irgendetwas mit herzubringen.
»Sehr gut. Wir sind wirklich stolz auf sie. Merry beträgt sich vorbildlich.«
Ich wollte so gern den Arm ausstrecken und Vaters Hand tätscheln und seine Wange. Er sah älter aus. Sein Mund hing ganz lose herab, auf eine traurige Art. Ich zählte an den Fingern ab. Er
war jetzt fünfunddreißig Jahre alt.
»Wie geht es Lulu?«, fragte er mich. »Liest sie meine Briefe?«
»Äh, die meisten«, sagte ich. »Ich habe letzte Woche eine Eins in Geschichte und im Diktat bekommen. Weißt du noch, was ich dir geschrieben habe, dass ich jetzt in die FK komme?«
»Das ist die Förderklasse«, mischte sich Doktor Cohen ein. »Das bedeutet, dass sie besonders gut ist und einen schwierigeren Lehrplan bekommt.«
»Ich weiß, was FK bedeutet.« Daddy klang schon nicht mehr so freundlich. »Was ist mit Lulu? Wie macht sich meine Große in der Schule?«
Doktor Cohen zögerte ganz kurz, dann sagte er langsam und tonlos: »Sehr gut. Sie besucht die Förderklassen in Naturwissenschaften und Mathematik. Lulu hat eine Begabung fürs Technische.«
»Die hat sie wahrscheinlich von mir.« Mein Vater klang streitlustig. »Ich habe Beschläge für Schiffe gefertigt, nach ganz genauen Vorgaben, wissen Sie? Hat Merry Ihnen erzählt, dass ich jetzt fast ein amtlich zugelassener Optiker bin?«
»Ich glaube, davon habe ich bisher noch nichts gehört.« Doktor Cohen nickte. »Schön für Sie.«
»Sie brauchen nicht so von oben herab mit mir zu reden, Freundchen.« Daddy blies die Brust auf. Nur ein bisschen, aber ich konnte es sehen.
Doktor Cohen stützte einen Ellbogen auf den Tisch und sagte leise: »Mister Zachariah, Sie haben keinen Grund, mit mir zu streiten. Meine Frau und ich kümmern uns sehr gern um Lulu und Merry.« Er drehte seinen goldenen Manschettenknopf herum. »Meine Frau hat sich im Duffy-Parkman-Heim sozusagen in die beiden verliebt. Sie gehören jetzt praktisch zur Familie. Ich bin nicht Ihr Feind. Dennoch werde ich mir von Ihnen keine Beleidigungen gefallen lassen.«
Ich faltete die Hände, starrte auf den Tisch, hakte die Knöchel umeinander und drückte sie fest zusammen, unter dem Tisch, wo es niemand sehen konnte. Meine Hände zuckten wieder, hinauf zu meiner Brust, aber Lulus unsichtbare Hand hielt mich zurück. Ich warf aus den Augenwinkeln einen Blick auf die Wachen, die in jeder Ecke lauerten.
»Also«, fuhr Doktor Cohen fort, als mein Vater nichts erwiderte. »Merry hat mir erzählt, dass Sie Bücher mögen. Was können wir tun, um Ihnen Lesestoff zu beschaffen?«
Daddy warf mir einen Blick zu, der
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