Heute Und in Ewigkeit
ich habe genug von dieser Undankbarkeit. Wir haben für diese Mädchen alles nur Mögliche getan. Haben wir sie nicht aus diesem Heim und aus ihrer Familie geholt, und damit praktisch aus der Gosse?«
Ich sprang auf. »Lasst Lulu in Ruhe. Ihr seid gemein. Warum sollte ich dankbar dafür sein, dass ich meinen Vater nicht besuchen darf? Wäre es nicht respektvoll, mir das zu erlauben? Er ist keine Gosse. Er ist meine Familie. Und er ist ganz allein. WARUM BESTRAFT IHR MICH SO ?«
»Merry.« Lulu streckte die Hand nach mir aus. »Nicht.«
Ich stieß Lulus Hand fort. »Warum darf ich nichts sagen? Warum muss ich so tun, als wäre er tot? Das ist nicht fair.« Ich schlug mit der Hand auf das weiße Tischtuch. Jedes Mal, wenn ich darum bat, Daddy besuchen zu dürfen, brachten sie mich zum Schweigen und sagten »eines Tages« und »wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist«, und dann merkte ich wieder einmal, dass niemand mit mir reden wollte.
»Schätzchen. Beruhige dich. Was ist denn auf einmal los mit dir?« Mrs. Cohen stand auf.
»Das habe ich doch gerade gesagt. Ich will meinen Vater sehen.« Ich schlang die Arme um mich und wiegte mich vor und zurück. »Bitte. Bitte. Bitte. Lasst mich meinen Vater besuchen.«
Amy legte mir einen Arm um die Schultern und hob die Hand, um Mrs. Cohen aufzuhalten, die herüberkommen wollte. »Warum in aller Welt muss sie so tun, als sei ihr Vater tot?«
12
Merry: Februar 197 8
it dem Auto zum Gefängnis zu fahren, kam mir ganz anders vor als mit der Staten Island Ferry. Ich vermisste die knutschenden Pärchen und die unruhigen Wellen und das World Trade Center, das vor meinen Augen wuchs. Im Vergleich dazu war die Autofahrt langweilig, aber ich war froh, dass ich überhaupt dorthin durfte, ob nun per Schiff, mit dem Auto oder indem ich über die Gefängnismauer flog. Mrs. Cohen hatte drei Monate gebraucht, um Doktor Cohen davon zu überzeugen, dass er mir erlauben sollte, Daddy zu besuchen. Als er sich schließlich hatte erweichen lassen, hatte er beschlossen, mich persönlich hinzubringen.
Glaubte er, die Gefangenen würden seine Frau angreifen? Doktor Cohen sagte immer, Mrs. Cohen sei nicht streng genug – vielleicht fürchtete er, sie würde mich mit den Insassen herumlungern lassen und ich würde lernen, wie man Banken überfiel.
Ich lugte zu Doktor Cohen hinüber, dessen Hände ruhig auf dem Lenkrad lagen. Ich war noch nie mit ihm allein gewesen, seit wir vor über drei Jahren bei unseren Pflegeeltern eingezogen waren. Er war ein stiller Mann, aber es war die Art Stille, bei der man sich wohlfühlte. Ich hingegen hatte das Gefühl, in einem Auto-Schweigen festzustecken, und ich wusste, dass ich die ganze Zeit über langweilig war, aber ganz gleich, wie sehr ich mich bemühte, mir etwas einfallen zu lassen, ich konnte mir einfach nicht vorstellen, was ihn an meinem Leben interessieren könnte.
»Werden wir das World Trade Center sehen?«, fragte ich. »Meine Oma und ich haben es immer angeschaut, wenn wir mit der Fähre gefahren sind. Die Türme sind jetzt sechs Jahre alt, oder?« Ich stellte die Frage, obwohl ich die Antwort kannte, weil Doktor Cohen gern Sachen wusste.
»Das stimmt. Sieben im Juli. Wenn es nicht so neblig wäre, würden wir sie irgendwann sehen.« Doktor Cohen warf mir einen raschen Blick zu und schaute dann wieder auf die Straße. »Interessierst du dich fürs Bauingenieurwesen? Architektur?«
Ich konnte ihm nicht sagen, dass die Türme eine sichtbare Anzeige für den Tod meiner Mutter geworden waren. »Mein Vater hat mir davon erzählt, als sie daran gebaut haben«, sagte ich. »Er hat etwas über die feierliche Eröffnung gelesen.« Ich erwähnte nicht, dass das kurz nach dem Tod meiner Mutter gewesen war. Als sie ihn ins Gefängnis gesteckt hatten.
»Ach, tatsächlich? Wo denn?«
»In der Zeitung. Oma hat ihm ein Abonnement geschickt.«
»Die Daily News ?«
Ich wusste, was Doktor Cohen von der Daily News hielt. Glaubte der Mann vielleicht, mein Vater sei dumm?
»Nein, die Times «, log ich. In Wahrheit war es die Post gewesen.
»Tatsächlich.« Doktor Cohen nickte ein paar Mal. Das machte er immer, wenn er etwas Neues erfuhr, als beförderte er es damit in eine geistige Aktenablage.
»Mein Vater liest sehr viel. Seine Zelle quillt wahrscheinlich über von Büchern.« Ich quetschte verlegen das Gesicht zusammen. Obwohl Doktor Cohen mich gerade zum Gefängnis fuhr, fühlte ich mich trotzdem seltsam, wenn ich irgendetwas erwähnte, das damit
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