Heute Und in Ewigkeit
zu tun hatte.
»Vielleicht können wir zu Chanukka ein paar Bücher aussuchen, die Lulu und du ihm dann schickt«, sagte Doktor Cohen, wandte sich mir einen Moment lang zu und lächelte mich gütig an. »Falls er keine Geschenke erhalten darf, könnten wir sie vielleicht der Gefängnisbibliothek stiften.«
»Das wäre schön.« Meine Stimme wackelte vor Scham. Ich fand diese ganze Unterhaltung grässlich.
»Weißt du«, sagte Doktor Cohen, »Menschen aus einer schlimmen Lage herauszuhelfen, bringt Segen. Ich würde deinem Vater gern helfen, zu lernen und zu wachsen. Vielleicht können wir Freunde werden, er und ich.«
Doktor Cohen versuchte immer, Größe zu zeigen und das Richtige zu tun. Ich versuchte, mir ihn und meinen Vater als Freunde vorzustellen. Obwohl Daddy der freundlichste Mensch auf der Welt war, würde Doktor Cohen ihm ein unbehagliches Gefühl geben. Jedenfalls gab er mir jeden Tag ein unbehagliches Gefühl – er war viel zu sehr ein Mann, von dem man sich nicht vorstellen konnte, dass er je Mist baute.
»Das wäre schön«, wiederholte ich. Mir fiel absolut nichts mehr ein, was ich hätte sagen können, also lehnte ich den Kopf ans Fenster und schloss die Augen.
Ich hatte das Gefühl, dass nur ein Moment vergangen war, als ich wach wurde, weil wir vor dem Gefängnis anhielten. Ich hatte gar nicht gewusst, dass das Gefängnis einen Parkplatz hatte. Doktor Cohens Chrysler New Yorker war elegant und schwarz und stach unter den rostigen, verblassten Autos hervor, die auf dem Parkplatz standen.
Die Prozedur, die Oma und ich die Durchsuchungsparty ge nannt hatten, fühlte sich ohne Omas lustige Kommentare demütigend an. Schau, Merry. Mrs. Feingold hat sich wieder die Haare gefärbt. Der reinste Regenbogen aus der Flasche. Oma hatte sich solche Mühe gegeben, das Gefängnis zu einer interessanten kleinen Welt zu machen.
Doktor Cohen stach in Anzug und Krawatte auch aus der Warteschlange der Besucher hervor, umgeben von den ausgelaugten Frauen, ihren kreischenden Kindern und ein paar verloren aussehenden Männern, die billige, bunt gemusterte Hemden oder verwaschene Arbeitskleidung trugen.
Ich zupfte meine rote Latzhose zurecht. Sie war nagelneu, und ich hoffte, mein Vater würde mich darin hübsch finden. Mrs. Cohen hatte sie mir nach Thanksgiving gekauft. Der schwarze Reißverschluss zog sich bis über die Hüfte hinab durch den roten Jeansstoff.
»Ach, Merry! Du bist so zart und zierlich, du siehst aus wie ein Püppchen«, hatte Mrs. Cohen ausgerufen. Sie hatte das halbe Bloomingdale's für mich gekauft, um Thanksgiving wiedergutzumachen. Dann hatte sie mir erlaubt, mir Ohrlöcher stechen zu lassen, und mir goldene Steckerchen geschenkt und obendrein goldene Creolen für später, wenn die Löcher verheilt waren. Lulu behauptete, ich sähe albern damit aus, aber das war mir egal. Ich fand, dass ich gut aussah. Mrs. Cohen sagte das auch.
Ich atmete ganz flach, während wir in der Schlange immer weiter nach vorn rückten, und verschränkte die Arme vor dem Bauch, damit ich mir nicht ständig mit den Fingern auf die Brust klopfte.
»Na, so etwas, Miss Merry!«, sagte Officer McNulty. »Beinahe hätte ich dich nicht erkannt. Du bist ja eine richtige junge Dame geworden. Wir haben dich eine ganze Weile nicht mehr gesehen.«
Ich schob mich hastig vor Doktor Cohen, um ihm zu zeigen,
was er für den Wärter machen musste. Ich hob die Arme und
sagte: »Meine Oma ist gestorben.«
»Oh, das tut mir leid. Deine Oma war eine reizende Person, eine echte Dame.«
Ich hätte Officer McNulty um den Hals fallen mögen.
»Wer hat dich denn heute hergebracht?«, fragte er.
»Ich bin Doktor Cohen.« Er streckte die Hand aus, die Officer McNulty mit überraschter Miene ergriff. »Merry wohnt jetzt bei mir und meiner Frau.«
»Ist das nicht schön? Hast du aber ein Glück, was, Merry?« Officer McNulty tastete Doktor Cohen hastig und sehr respektvoll ab.
»Ja, es ist toll«, sagte ich und blickte mich in dem überfüllten Saal nach Daddy um. Da war er, an unserem gewohnten Tisch, ganz weit weg von Pete und seiner Frau Annette, die so fett war, dass man nicht anders konnte, als sie anzustarren. Die Leute setzten sich meistens jede Woche an denselben Tisch, trotzdem hätte ich nicht erwartet, dass alles genauso war wie früher. Strichen sie denn nie die Wände?
»Merry!«, rief Daddy, als ich auf ihn zulief. Ich ignorierte die Regeln und warf mich in seine Arme. Er drückte mich ganz fest an sich, fest genug,
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