Heute Und in Ewigkeit
Film auf meinen Schleimhäuten. Ich hob rasch den Unterarm unter die Nase und schnupperte an dem Wick Vaporub, das ich mir am Morgen wie Parfüm aufs Handgelenk getupft hatte.
Ron, Marta, Henry und ich sahen einander an.
Nach dir, nein, nach dir.
Ich wappnete mich, streckte eine Hand aus und ergriff die Ecke des kalten Lakens. Langsam enthüllte ich den Körper, der mit dem Gesicht nach unten dalag. Ich ermahnte mich, das Atmen nicht zu vergessen. Der Kopf unserer Leiche war in dünne weiße Gaze gewickelt. Meine Fingerknöchel streiften kalte Haut, die mich an eine Plastikpuppe erinnerte. Die Knubbel ihrer Wirbelsäule – jetzt konnte ich sehen, dass es eine Frauenleiche war – zeichneten sich wie aufgereihte Perlen ab.
Wie war diese Frau gestorben? War sie allein gestorben? Wie Mama? Ich biss mir auf die Zunge, um den Schmerz zu vertreiben, der durch meinen Bauch zuckte. Das Blut meiner Mutter war Buntstift-Rot gewesen. Aus diesem Körper kam kein Blut. Ich schob die Erinnerungen an Mama beiseite und weigerte mich, daran zu denken, dass sie vielleicht überlebt hätte, wenn ich schneller gerannt wäre, wenn ich Teenie schneller geholt hätte. Ich weigerte mich, sie mir als ein Häufchen Asche mit ein paar Knochen darin vorzustellen.
»Einer nach dem anderen lässt jetzt die Finger über die Wirbelsäule wandern«, erklärte Dr. Haslett. »Und benutzen Sie auch die Daumen.«
Henry hob rasch den Arm über den Leichnam und drängte sich vor. Er war jetzt dran. Ich hatte schließlich schon das Tuch weggezogen. Er fuhr dreimal mit dem Daumen die Wirbelsäule auf und ab.
»He, gib uns auch mal 'ne Chance«, sagte Ron schließlich.
Henry zog sich zurück, und Rons lange, ausdrucksvolle Finger ersetzten Henrys klobige Hände. Ron hatte echte Chirurgenhände. Ich blickte auf meine eigenen hinab: Waschweib-Hände. Kurze Nägel. Breite Hände, wie Oma Zeldas.
Martas Fingernägel waren zartrosa. Sie hatte die Hände einer Nonne, Finger wie eine Heilige. Marta strich sacht an der Wirbelsäule unserer Frau auf und ab und ertastete jeden einzelnen Wirbel. Von Martas Händen wollte ich berührt werden, wenn ich tot war.
Meine Mutter hatte zierliche Hände gehabt. Ihre Ringe wären mir viel zu klein.
Hatte Tante Cilla sich Mutters Verlobungsring mit dem Diamantsplitter genommen? Ihren breiten goldenen Ehering, den Amethystring, den Mimi Rubee Mama zu ihrem sechzehnten Geburtstag geschenkt hatte – hatte Tante Cilla das alles?
»Lulu?«, sagte Marta. »Du bist wieder dran.«
Meine Hand zitterte, als ich die tote Haut berührte. Ich krümmte und streckte die Finger. Wenn ich schneller gewesen wäre, klüger, wenn ich die Tür gar nicht erst aufgemacht hätte, wäre Mama noch am Leben. Das wusste ich ganz sicher.
»Alles okay?«, fragte Henry.
»Klar.« Ich legte die Hand flach auf den Rücken der Toten. War sie ein religiöser Mensch gewesen? Jüdin? Christin? Buddhistin? So schnell, dass es niemand merken konnte, zeichnete ich ein winziges Kreuz auf ihren Rücken, dann einen Davidsstern, und wünschte mir, noch mehr Symbole zu kennen.
Vier Monate später starb Anne Cohen.
Ich war auf dem Weg zur Schiv'a , nachdem ich die Beerdigung verpasst hatte. Fromme Juden begraben ihre Toten schnell und betrauern sie dann sieben Tage lang. Doktor Cohen bestand darauf, die jüdischen Gebote buchstabengetreu zu befolgen, und begrub Anne am Tag nach ihrem Tod. Allerdings erlaubte er mir ausdrücklich, der Beerdigung fernzubleiben. Er sagte, ich solle keine Kurse verpassen. Ausgerechnet an dem Tag sollten wir menschliche Herzen sezieren. Doktor Cohen sagte, er wisse, wie wichtig das Herz sei.
Anne war am frühen Montagmorgen verstorben. Jetzt war Samstag, der letzte Tag, an dem die Familie Schiv'a sitzen würde. Ich würde rechtzeitig in New York ankommen, um bei den letzten Stunden der offiziellen Trauerriten dabei zu sein, und dann morgen mit dem Bus nach Boston zurückfahren.
Der Greyhound-Bus jagte den Highway entlang. Dezember-Schneematsch bedeckte das Gras am Straßenrand. Mir hatte vor dieser Fahrt gegraut, aber ich hatte mich damit abgefunden. Auf Busfahrten konnte ich gut verzichten, aber Schlaf brauchte ich, und zwar dringend.
Stunden um anstrengende Stunden in Kursen und Vorlesungen, gefolgt von stundenlangem Lernen, Tag für Tag, Monat für Monat hatten mich völlig erschöpft. Die Samstage und Sonntage verbrachte ich stets mit meiner Studiengruppe in der Bibliothek.
Henry, Ron, Marta und ich waren inzwischen wie
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