Heute Und in Ewigkeit
üblich schliefen wir sofort ein. Sieben Stunden später, als der Wecker klingelte, überraschte ich Henry, indem ich mich auf ihn setzte.
»Wir müssen in einer halben Stunde los«, sagte er.
Ich beleidigte ihn nicht, indem ich darauf hinwies, dass es sowieso nur ein paar Minuten dauern würde. »Stell dir nur vor, wie viel entspannter wir in die Prüfung gehen werden«, sagte ich und schob ihn mir rein. Wir hatten an diesem Vormittag eine Klausur in Organischer Chemie. Ich machte mir keine Gedanken, weil ich Sex als Lernhilfe benutzte, denn wir benutzten einander oft auf diese Weise. Ich hätte wetten mögen, dass unser halber Jahrgang sich deswegen zu Pärchen zusammengefunden hatte, weil die orgasmischen Endorphine dabei halfen, sich einzuprägen, wo der Vagusnerv verlief.
Es war schon nach neun Uhr am Montagabend, als ich mich endlich in mein eigenes Wohnheimzimmer zurückschleppte. Ich hatte Merry am Abend vorher anrufen wollen, um mich zu vergewissern, dass sie sicher nach New York zurückgekehrt war, aber ich hatte es vergessen, und dann war ein Kurs auf den anderen gefolgt, ein hektisches Karussell, das mit der Lerngruppe endete.
Mein Leben hetzte sich selbst im Kreis herum. Lähmende Ungetüme von Begriffen und Bildern häuften sich in meinem Hirn und meinen Notizbüchern an und verstopften meine geistigen Schaltkreise, bis ich die Tatsachen und Diagramme in Prüfungen oder im Anatomielabor wieder freiließ. Heute hatten Henry, Ron, Marta und ich an dem Gewirr von Nerven im Nacken unserer Leiche gearbeitet. Twiggy hatten wir sie genannt. Sie war an Magersucht gestorben – zu diesem Schluss waren wir jedenfalls mit den dürftigen differenzialdiagnostischen Mitteln gekommen, die uns zur Verfügung standen. Twiggys Leichnam wurde in unseren Händen zum Modellbaukasten.
Ich fuhr mit dem Aufzug in den dritten Stock. Das Studentenwohnheim der Cabot Medical School war abgewohnt und schäbig. Im Flur lag schmuddeliger Teppichboden in einer undefinierbaren Farbe, als hätte der Staubsauger die ursprünglichen Pigmente mit weggesaugt. Türen und Flure waren völlig kahl. Wir Studentinnen bewohnten eine Reihe von Einzelzellen, in denen wir lebten wie Nonnen, die Sex hatten. Ich wachte zu den seltsamsten Uhrzeiten auf und hörte Irene nebenan vögeln, während ihr Bett rhythmisch an die dünne Wand stieß, bis sie theatralisch kreischte, wenn sie zum Orgasmus kam. Ich war froh, dass die wilde Irene nur hin und wieder einen Partner anzog, der bereit war, sie in ihrer Bude zu besuchen.
Der Geruch von Räucherstäbchen und Marihuana und der Anblick von Merry, die zugedröhnt auf meinem Bett lag, überfielen mich, als ich die Tür öffnete. »Was zum Teufel machst du denn noch hier?«, fragte ich.
Meine Schwester wandte den Kopf auf dem Bett, und ihre roten, bekifften Augen hatten sichtlich Mühe, mich klar zu erkennen. Rick Springfield sang etwas blechern aus den winzigen Lautsprechern meines Kassettenrekorders. Merry verschwand beinahe in einer roten Jogginghose – meiner liebsten – und Henrys grauem University-of-Michigan-Sweatshirt, das er in meinem Zimmer deponiert hatte. Sie hatte die schmutzigen Fußsohlen gegen die Wand gestemmt und wippte im Takt mit ihren winzigen Füßen.
»Ich hätte es nicht ausgehalten«, sagte Merry.
»Was denn?« Sie sollte raus aus meinem Zimmer.
»Alles. Doktor Cohen. Eleanor, die zu Besuch kommt, mich giftig anstarrt und mich zwingt, auf ihre Kinder aufzupassen. Daddys Briefe, in denen er mich anfleht, doch endlich zu kommen, weil ich ihn seit drei Wochen nicht mehr besucht habe.«
»Ich bezweifle, dass das alles an einem einzigen Tag passiert.«
Ich hob ein leeres Becherchen Zwiebel-Dip und eine halb geleerte Tüte Doritos auf und stopfte beides in den Mülleimer. »Und du bist nicht für unseren Vater verantwortlich.«
Ich war alles andere als begeistert, kostbare Stunden Schlaf dafür zu opfern, dass ich Merrys Sauerei aufräumen musste. »Warst du das ganze Wochenende lang allein hier drin?«
»Daddy hat doch sonst keinen anderen Menschen auf der Welt, nur mich. Und nur zu deiner Information, nein, ich war nicht das ganze Wochenende lang allein. Ich habe jemand Nettes kennengelernt, einen Stock tiefer.«
»Da wohnen die Jungs.«
»Ist das nicht der Sinn der Sache?« Merry lachte und griff in eine Riesentüte m&m's. Sie nahm eine Handvoll heraus und schob sie sich auf einmal in den Mund.
»Weiß der Typ, dass du noch zur Highschool gehst?«
Sie rollte sich auf
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