Heute Und in Ewigkeit
die Seite. Ihr täuschend unschuldiges Aussehen in Verbindung mit ihrer schlampigen Einstellung ergaben die perfekte Odaliske. Verglichen mit Merry, war ich eine Kreuzung aus einer Religionslehrerin und Oma Zelda.
»Ich glaube, das wäre ihm egal.«
»Wie wäre es mit ein bisschen mehr Selbstachtung?« Ich wies mit einer ausholenden Geste auf das ganze Zimmer – ihr Gras, ihre Schmuddligkeit, den Müll, von dem sie sich ernährte. »Ganz zu schweigen von ein wenig Respekt vor mir, meinem Zimmer und meinen Sachen.«
»Dein Zimmer? Ich soll deine Sachen mehr respektieren? Dir ist gar nicht klar, was für ein Glück du hast. Du hast wenigstens dieses verdammte Zimmer. Was habe ich denn?« Merrys Stimme wurde lauter und schriller. »Nichts. Ich komme dich besuchen, und Madame Medizinstudentin widmet mir ungefähr eine Viertelstunde ihrer Zeit, dann ist sie weg.«
»Ich lerne. Ich arbeite.«
»Du schläfst mit Henry. Kannst du auf den nicht mal eine Nacht verzichten?« Merry zog die Knie unter Henrys Sweatshirt, und ihre Stimme nahm einen jämmerlichen Tonfall an. »Bleibst du heute Nacht hier?«
»Nein, das kann ich nicht. Nicht, wenn du mein Zimmer so hinterlässt. Das muss aufhören. Ich weiß nie, was oder wen ich hier vorfinden werde, und ich habe nicht die Absicht, dich aus irgendeinem Rausch aufzurütteln, damit ich in meinem eigenen Bett schlafen kann.«
Meine Worte schienen Merry zu zerschmelzen. Sie kippte auf den Rücken und ließ die Tüte m&m's zu Boden fallen. »Du bist alles, was ich habe, Lu. Manchmal kann ich nicht atmen, wenn ich nicht high bin oder jemanden bei mir habe.«
Ich runzelte die Stirn, hielt aber den Mund, seufzte und streckte mich dann neben ihr auf dem Bett aus. Sie drehte sich um und schlang die Arme um mich.
»Ist schon gut. Alles wird gut.« Ich fühlte ihr Herz schlagen.
»Daddy wird böse sein. Das ist schon das dritte Wochenende, an dem ich ihn nicht besucht habe.«
»Macht dich das so fertig?«
»Du brauchst es nicht gleich so auszudrücken. Das ist nur ein Teil davon, und außerdem, reicht das nicht? Erst muss ich mir Sorgen machen, weil er ganz allein und traurig auf mich wartet, und dann, weil er böse werden könnte.«
»Vergiss ihn einfach. Geh nicht mehr hin.«
»Das sagst du so.« Merry löste sich von mir. »Ich kann das nicht so wie du. Ich kann ihn doch nicht aus meinem Leben ausschließen.«
»Dann lern es.« Ich stand auf und begann, leere Snack-Verpackungen einzusammeln. »Das nennt man Selbsterhaltung.«
»Du willst doch nur, dass ich Daddy nicht mehr besuche, damit du aufhören kannst, an ihn zu denken.«
»Das ist leider nicht sehr wahrscheinlich.« Zornig drückte ich eine Pizzaschachtel zusammen und stopfte sie in den Mülleimer. »Nicht, solange du ständig von ihm sprichst und ihn mit in jeden Raum bringst, den du betrittst.«
Merry schwang die Füße über die Bettkante. »Daddy ist immer mit im Zimmer, Lu. Du vergisst wohl, dass du dir die Geschichte, er sei tot, selber ausgedacht hast. Nicht über ihn zu reden, wird ihn nicht weniger lebendig machen.«
»Ihn zu besuchen, wird Mama nicht zurückbringen.« Ich bückte mich und hob eine weitere schmutzige Socke auf.
»Wenn du glaubst, ich würde ihn deswegen besuchen, hast du echt nichts verstanden«, entgegnete Merry. »Willst du wissen, warum ich Daddy besuche?«
Ich schüttelte ein zerknülltes Handtuch aus und warf es in den Wäschekorb. »Nein.«
14
Lulu: Dezember 198 6
ch hätte schwören können, dass ich immer noch das billige Gefängnis-Papier in meiner Hand knistern hörte, obwohl ich mir mit der Gründlichkeit eines Chirurgen die Hände gewaschen hatte, nachdem ich Vaters Brief zusammengeknüllt und in den Müll geworfen hatte. Sobald ich in der Notaufnahme angekommen war, hatte ich sie mir noch einmal gewaschen. Mit der scharfen Krankenhausseife. Trotzdem bohrte sich der Brief meines Vaters weiterhin wie ein Wurm in meinen Kopf, überzog meine Hände mit Schleim, und seine Worte schossen wie Querschläger in mir herum.
Warum kommst Du mich nicht besuchen ? Du hast doch keine Angst vor mir, oder, Lulu ? Wir können miteinander reden, wir müssen reden, Schokokrispie . Es macht mich wahnsinnig, Dich nicht zu sehen, Süße . Ich bin Dein Vater, Herrgott noch mal .
Ich balancierte wie ein Surfer auf einer Woge der Übelkeit, während ich meine junge Patientin anlächelte. Einen Augenblick lang spannte ich die Nackenmuskeln an, fest entschlossen, meinen Vater aus meinem Kopf
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