Heute Und in Ewigkeit
damit mein wahres Selbst gezeigt hatte.
Ich hatte Mühe, richtig zu atmen, so, wie ich in Boston atmete. Die Wohnung schien keinen Sauerstoff zu enthalten, wie ein vakuumartiges Gewirr von Räumen, die mit teuren Möbeln vollgestellt waren. Dieselben Sofas und Sessel wie damals, als wir eingezogen waren. Ich war schockiert gewesen, als mein kindischer Plan, Mrs. Cohen dazu zu bringen, dass sie uns zu sich nahm, tatsächlich aufgegangen war. Natürlich war ich dankbar gewesen. Ich hätte verrückt sein müssen, wenn ich dem Elend im Duffy-Parkman-Heim für Mädchen nicht hätte entrinnen wollen. Eine weitere Woge der Scham, noch stärker als vorhin im Bus, überwältigte mich. Ich wünschte, meine Dankbarkeit hätte sich in die Liebe verwandeln können, nach der Anne Cohen anscheinend so sehr gehungert hatte. Ich wünschte, ich hätte ihr gesagt, wie sehr mir das Zimmer gefiel, das sie mir hier eingerichtet hatte. Ich wünschte, ich hätte das Gefühl abschütteln können, das Projekt Lulu zu sein – eine Identität, die ich ebenso verabscheute wie die der Mörderstochter.
Merry und ich hatten kaum einen Augenblick für uns allein, bis wir am nächsten Vormittag zusammen spazieren gingen. Die Leute eilten den Broadway entlang, die Sonntagsausgabe der New York Times unter den Arm geklemmt, um schnell wieder nach Hause zu kommen, ehe die arktische Luft die frischen, warmen Bagels einfror, die sie wie essbare Schätze vor sich her trugen.
»Du hast mich ganz allein gelassen. Es war schrecklich bei der Beerdigung ohne dich«, sagte Merry.
»Doktor Cohen hat gesagt, es sei wichtig, dass ich keine Stunde verpasse.« Ich wandte ihr das Gesicht zu und forderte meine Schwester heraus, mir zu widersprechen. Sie starrte zurück, und der Ausdruck in ihren violett und schwarz umrandeten Augen sagte Schwachsinn. Sie warf sich das Haar aus dem Gesicht. Merry sah erschreckend anders aus als bei meinem letzten Besuch zu Hause im August. Die seidigen, dunklen Wellen waren blond gesträhntem, glatt gezogenem Haar gewichen. Ein zerrissenes Satinfähnchen hing ihr von einer Schulter. Sie sah aus, als hätte sie das Outfit beim letzten Go-Go's-Konzert gestohlen. Hatte Mrs. Cohen Merry etwa regelmäßig so aus dem Haus gelassen? War nuttig jetzt der passende Look für Schülerinnen im Abschlussjahr der Highschool?
»Schon klar. Du konntest nicht einen Tag an der Uni versäumen, um am Begräbnis deiner Pflegemutter teilzunehmen.«
»Du weißt nicht, wie es im Medizinstudium zugeht, Merry.«
»Aber du weißt ganz genau, wie es hier für mich ist.« Sie packte mich am Arm. »Was soll ich diesen Sommer machen? Was ist mit dem College? Wo soll ich bloß in den Ferien hin?«
»Beruhige dich, Merry. Glaubst du vielleicht, er würde dich rauswerfen? Oder deine Studiengebühren nicht bezahlen?«
»Glaubst du denn, ich könnte mit ihm allein da wohnen? Oh Gott, wie unheimlich ist das denn?«
Trotz ihrer zotteligen Frisur sah Merry aus wie ein Kind. Tränen hingen an ihren Wimpern, und ihre rosigen Wangen waren mit Wimperntusche verschmiert.
»Warum? Was ist denn so schlimm daran?«, fragte ich.
»Kannst du dir vorstellen, da ohne Anne zu wohnen? Er wollte uns von Anfang an nicht haben, das weißt du genau.«
»Aber es ist nur für ein paar Monate. Danach komme ich über den Sommer nach Hause. Dann bin ich bei dir, versprochen.« Noch während ich das sagte, verdüsterte sich die Welt.
»Du musst jedes Wochenende nach Hause kommen«, sagte Merry. »Sonst werde ich verrückt, das schwöre ich dir. Ich habe schon die eine Woche mit ihm allein kaum ausgehalten. Abends, wenn die Leute nach der Schiv'a gegangen sind, war es wie in einem Kloster mit Schweigegelübde. Ich laufe weg, das sage ich dir. Ich finde schon jemanden, bei dem ich wohnen kann. Ich habe auf einer Party letzten Monat ein paar Jungs von der Columbia und von der New York University kennengelernt.«
»Das reicht«, sagte ich und hob die Hand. Ich eilte voran in ein Café, und Merry folgte mir. Drinnen ließ ich mich hart auf einem Stuhl an der Theke nieder. Ich packte Merry am Arm und zog sie auf den Platz neben mir.
»Schubs mich nicht so rum«, sagte sie. Hagel prasselte leise und eisig gegen die Fenster.
»Du ziehst bei niemandem ein.« Ich hielt ihren Arm fest. »Bist du mit jemandem zusammen?«
»Ich bin oft mit einer Menge Leuten zusammen.«
»Du weißt genau, was ich meine. Schläfst du mit irgendeinem Mann?«
Merry nahm ein Päckchen Zucker aus dem metallenen
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