Heute Und in Ewigkeit
Sie reckte das Kinn. »Wärst du mich nicht lieber los? Denkst du nie, dass du dann vielleicht einfach dein Leben leben könntest wie ein normaler Mensch?«
»Wir sind normal.« Ich verspürte eine leichte Atemnot und begann, Striche auf meinen Arm zu kratzen. »Nichts könnte uns trennen, Merry. Red nicht so.«
»Du kannst mir nichts garantieren.«
»Doch«, sagte ich. »Das kann ich. Wir haben die Kontrolle über unser eigenes Leben, Merry. Vergiss das nie.«
15
Lulu: Mai 198 7
ls der Frühling kam, fürchtete ich, allmählich die Kontrolle zu verlieren. Endlich verstand ich, wie es passieren konnte, dass Leute am Steuer einschliefen. Ich hatte schreckliche Angst davor einzunicken, während ich zum Beispiel eine Infusion verabreichte. Marta erinnerte mich seit Tagen an Rons Party heute Abend, aber ich wäre lieber zu Hause geblieben, um Denver Clan zu schauen. Unsere Assistenzzeit endete in fünf Stunden, und ich würde liebend gern jede einzelne Minute davon auf der Zwischen-Intensivstation der Neurologie verbringen, in Mr. Vincents Zimmer sitzen und mir das Essen schmecken lassen, das seine Frau ins Krankenhaus mitbrachte.
Die Vincents waren seit fünfundvierzig Jahren verheiratet, und Mrs. Vincent war fest entschlossen, ihren Mann am Leben zu erhalten. Stunde um Stunde hielt sie seine Hand, verrenkte sich den Hals, um gleichzeitig in den hoch an der Wand befestigten Fernseher schauen zu können, und fütterte das Personal. Sie und ihr Sohn kamen jeden Tag um zehn Uhr ins Krankenhaus, und jeden Tag trug ihr Sohn einen Karton, der innen mit Zeitungspapier isoliert war. In dem Karton waren mehrere große Tupperbehälter mit warmem Trostessen, jeden Tag eine andere Variation von Ravioli, Lasagne oder gegrillten Auberginen. Die Liste war schier endlos. Zusätzlich trug Mrs. Vincents Sohn noch eine große Plastiktasche über der Schulter, voller Cannoli und Kekse aus der Bäckerei ihres Cousins.
»Hallo, Misses Vincent«, sagte ich, als ich den Raum betrat. »Guten Tag, Mister Vincent. Wie fühlen Sie sich heute?«
»Sieh mal, Joe, da ist Doktor Zachariah.« Mrs. Vincent wischte ihrem Mann zärtlich ein Rinnsal Speichel vom Mund. »Wir schauen gerade die Nachrichten. Joe sieht gern die Nachrichten. Nicht wahr, Joe?«
Mr. Vincent lächelte und nickte, wie er es immer tat, egal, worüber. Mrs. Vincent fasste seine fröhliche Mimik als Zeichen dafür auf, dass er sich von seinem Schlaganfall erholen würde, obwohl die Berichte seines Neurologen stets düster waren.
»Haben Sie Hunger, Schätzchen?« Sie griff in eine zerknitterte braune Einkaufstüte.
Ich ließ mich auf den Stuhl neben ihrem sinken. »Ich bin am Verhungern.« Ich hatte ohne Unterlass Patienten behandelt, seit ich am Samstagmorgen das Krankenhaus betreten hatte. Jetzt war es nach sieben Uhr am Sonntagabend.
Mrs. Vincent machte mir einen Pappteller Lasagne zurecht. Das Essen war längst kalt, aber das war mir gleich. Sie reichte mir eine Plastikgabel und eine gefaltete Papierserviette. Ich verdrehte die Augen vor Genuss, als ich den ersten Bissen des süßlichscharfen, fleischigen Nudelgerichts schmeckte.
Irgendwann während meiner Assistenzzeit hatte Essen Sex als Entspannungsmethode abgelöst. Zeit für aerobische Runden im Bett zu haben, erschien mir wie ein Teil eines anderen Lebens in der vergleichsweise einfachen Welt des Medizinstudiums – vergleichsweise war in diesem Fall natürlich so aufzufassen wie der Einäugige, der unter Blinden König ist.
Ein Streifen Pasta fiel auf meinen weißen Kittel und landete auf dem Blut, das ein Patient ein paar Zimmer weiter mir gerade erst daraufgespuckt hatte. Ich zupfte das Stück Nudel vom Stoff und dachte einen Augenblick lang beinahe daran, es zu essen. Dann tupfte ich mit einer Serviette an meinem Kittel herum und schaffte es, den kleinen Blutfleck zu einem untertassengroßen roten Fleck zu verschmieren, den man zweifellos noch vom Mars erkennen konnte.
»Hier, hier, nehmen Sie das.« Mrs. Vincent hielt mir ein feuchtes Reinigungstuch hin. »Oder wollen Sie Ihre Patienten zu Tode erschrecken?«
»Sie sollten mich wirklich fürchten«, sagte ich. »Wissen Sie, wie lange ich schon hier bin?«
Mrs. Vincent schnaubte. »Na und, schauen Sie sich Joe an. Sie können bald nach Hause gehen. Er darf nie mehr nach Hause. Ihnen geht es morgen besser. Seien Sie froh, dass Sie jung und gesund sind. Eine starke Frau wie Sie kommt doch mit allem zurecht. Vergessen Sie nur nicht, ein paar Cannoli zu
Weitere Kostenlose Bücher