Heute Und in Ewigkeit
Emotionen stiegen in mir auf, und ich biss mir in die Hand, um nicht laut zu schreien, um die Knochen meiner Mutter nicht mehr in der staubigen Erde sehen zu müssen.
Ich hatte sie dafür gehasst, dass sie mich zum Einkaufen geschickt hatte, dass sie kein Abendessen gekocht hatte, dass sie nicht weich und verständnisvoll gewesen war. Dafür, dass sie mich gar nicht wahrgenommen hatte, bis sie etwas brauchte.
Spiel mit deiner Schwester.
Bring die Bügelwäsche zu Teenie.
Rette mir das Leben.
Ich hasste mich dafür, dass ich sie gehasst hatte.
Vielleicht hatte mein Hass Daddy geholfen, Mama zu töten. Warum war ich nicht auf seinen Rücken gesprungen? Hatte mich zwischen die beiden geworfen? Ihn angeschrien? Warum hatte ich nicht den Mund aufgemacht, statt mich im Bad zu verstecken? Merry war zu ihnen hinausgelaufen. Ich war nicht einmal
hingegangen, als Mama geschrien hatte. Er hat ein Messer. Hol Teenie. Er will mich umbringen.
Hatte Mama das gesagt? Hatte ich das richtig in Erinnerung, oder bildete ich mir die Worte nur ein? Hatte Mama wirklich gesagt, er wolle sie umbringen? Warum war ich nicht dazwischengegangen?
Was, wenn er Merry getötet hätte?
Warum hatte er sich nicht selbst das Leben genommen?
Warum hatte ich niemanden gerettet?
Als ich am nächsten Morgen zur Arbeit kam, deklarierte ich die plötzlich wieder verschwundene Grippe zur Lebensmittelvergiftung um. Zumindest war ich endlich einmal früh ins Bett gegangen, obwohl ich reichlich Erkältungssaft dazu gebraucht hatte – ich hatte kein richtiges Schlafmittel im Haus.
Nach dieser Schicht hatte ich meinen ersten freien Abend seit zwei Wochen, und ich hatte ihn Merry versprochen, die inzwischen an der Northeastern University in Boston studierte. Sie hatte mich gebeten, mich mit ihr zu treffen, weil sie Geld brauchte, und natürlich war sie schon zwanzig Minuten zu spät dran. Ich starrte auf die Tür des Restaurants und sah alle drei Minuten auf die Uhr. Nach einer halben Stunde erfasste mich nackte Angst. Bis meine Schwester endlich Rubin's Deli betrat, hätte ich vor Panik schreien mögen.
»Wo warst du denn? Warum kommst du diesmal wieder zu spät?«, fragte ich, obwohl Merrys blutunterlaufene Augen und das ungewaschene Haar meine Frage schon beantworteten.
»Die Straßenbahn fährt sonntags nicht so oft. Ich musste ewig warten.« Merry plumpste auf den Holzstuhl mir gegenüber. »Ich brauche einen Kaffee.«
»Du brauchst eine Pflegerin«, erwiderte ich. »Du siehst beschissen aus.«
»Danke. Es ist immer wieder tröstlich, wie du mich ermunterst. Ich habe die ganze Woche lang fürs Abschlussexamen gelernt.« Sie wühlte in ihrer Tasche herum und zog schließlich ein Päckchen Zigaretten hervor.
»Könntest du wenigstens warten, bis ich gegessen habe?« Ich nahm Merry die Packung Marlboro weg. »Hast du gestern Abend in einer Bar gelernt?« Ich griff nach meinem üppigen Corned-Beef-Sandwich und nahm absichtlich einen Riesenbissen.
»Igitt«, sagte Merry. »Das sieht ja eklig aus.«
»Dein schmuddeliges Haar anschauen zu müssen, während ich esse, ist auch nicht gerade angenehm.«
»Warum musst du gleich so gemein sein?«
»Warum kannst du nicht mehr auf dich achten?«
Merry nahm das Streichholzbriefchen vom Tisch und begann, ein Streichholz nach dem anderen herauszureißen. »Tut mir leid, dass nicht jeder so eine Heilige sein kann wie du.« Sie schnappte sich meinen dicken weißen Kaffeebecher und nippte daran. »Iih, du hast ja Zucker reingetan. Seit wann denn das?«
Ich beugte mich über den Tisch und holte mir den Becher zurück. »Seit ich auf meine Schwester warten musste, nachdem ich wochenlang absurd lange Schichten gearbeitet habe, meine Schwester nicht pünktlich kommt und mein Blutzucker so stark abfällt, dass ich gezwungen bin, drei Stück Zucker in meinen Kaffee zu rühren. Beantwortet das deine Frage?«
Merry sackte auf ihrem Stuhl zusammen. »Ich musste wirklich lange auf die Straßenbahn warten.«
»Dann hättest du eben früher losgehen müssen, du weißt genau, dass sie am Sonntag nicht so oft fährt.« Vor lauter aufgestauter Wut hätte ich sie am liebsten geschüttelt, bis sie mir zuhörte, und zwar richtig. Auf dieser Welt passierten furchtbare Dinge. Daran sollte sie denken, statt so zu tun, als sei alles in bester Ordnung. Ich fand es abscheulich, dass sie nach Zigarettenrauch stank und ihre Kleidung einen Hauch Bierdunst verströmte.
»Ich bin einundzwanzig. Wann hörst du endlich auf, an mir
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