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Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Titel: Heute wär ich mir lieber nicht begegnet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Müller
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er kleiner als die Maus, und du hast nichts getan und keine Schuld.
    Ja, mit jedem muß man rechnen. Sollte es einer von den Alten sein oder ein rachitischer Jüngling, dem die Ohren größer geraten sind als die Füße, werd ich ihn zum Auslüften begleiten.
    Kleider gibts genug, stell dir vor, man hätte deine teure Haut gestohlen, sagten Pauls Kollegen. Ich hab gehört, du hast dir gestern die Brustwarzen verkühlt. Wieder mal eingeseift gewartet und weit und breit keine Masseuse.
    Paul lachte mit. Die paar Witzereißer waren ihm lieber als die schweigsame Horde mit faulen Zungen und toten Augen. Aus diesem Unterschied wurde Paul nicht schlau, mit welchem Gesicht der Dieb herumläuft. Entweder machte er keine Fehler, oder Paul merkte es nicht. Auch die Notkleider, die jeder für den Fall des Diebstahls im Werkzeugschrank liegen hatte, waren nach dem Duschen weg.
    Unser Sozialismus läßt seine Arbeiter nackt aus der Industrie hervorgehen, sagte Paul in der Fabrik, alle paar Wochen ist man wie neugeboren, sowas hält jung.
    Wenn die Witzereißer morgens in der Halle ankamen, grüßten sie:
    Nackten Morgen.
    Beim Essen wünschten sie:
    Nackten Appetit.
    Vor dem Heimweg:
    Nackten Feierabend.
    Auf der Parteisitzung, da war der Unterschied gelöscht, sagte Paul. Da saßen sie alle wie ein Bretterzaun in der zweitletzten Reihe. Von ihren Schläfen tropfte der Schweiß, ihre Haare klebten am Schädel, und man wußte nicht, ob von der Sonne oder vor Angst. Um nicht den Eindruck einer Wortmeldung zu erwecken, rührten sie die Hände nicht vom Schoß. Dreckig, hart und reglos lagen sie da, rutschten unter die Knie. Im Sitzungssaal vorn waren die Vorhänge zugezogen, das Präsidium und die ersten Stuhlreihen hatten Schatten, aber diese Stühle blieben leer. Nur Paul mußte dort im Stehen öffentlich Selbstkritik üben und sich danach allein in die schattige Reihe setzen, auf einen der Stühle, die schon beim Atem holen knarren. Und er mußte tief Atem holen, weil sich sogar die Luft vor der Nase duckte.
    Als Rotzpopel, sagte Paul über sich selbst, sei er in die Partei gegangen, als Zehntklässler der Maschinenbauschule. Pauls Mutter sagte:
    In dem Land mag einer noch so klug sein, ohne rotes Buch kann er sich auf den Schnabel stellen und in den Staub furzen wie eine Wachtel.
    Sie war ein Dorfmädchen, das von den Rübenfeldern in die Stadt lief, in die Schwerindustrie mit fünfmal mehr Männern als Frauen. In den Betten, durch den Unterleib wurde sie zur Kommunistin.
    Geformt und geadelt, sagte Paul. Na, was konnte sie, sie konnte hacken, säen, ernten, Strümpfe stopfen, bißchen steppen mit der Nähmaschine, gut tanzen und Schafe melken. Ihre Parteipraxis hörte am Bettrand auf, stattdessen verstand sie sehr gut, ab wann der Männerwechsel einem gutgebauten Mädchen schadet. Dieses Gespür behielt sie und heiratete ein Haarbreit vor dem Schaden Pauls Vater, einen Helden der sozialistischen Arbeit. Sie wurde treu und blieb es. Ihr Mann wollte ihr die Sprache der Partei beibringen. Ihr Hirn war klug, aber das Mundwerk viel zu locker für eine Sprache, in der es nie ums Riechen und Schmecken ging, nie ums Hören und Sehen. Was immer Pauls Vater ihr vorsagte, wenn sie es wortgetreu wiederholte, klang es wie Spott: In unserer Kraft liegt der Fortschritt.
    Sprich leiser, sagte er.
    Und es klang schwächlich.
    Etwas lauter klang es verstiegen.
    Du redest über die Sache, sagte er, da mußt du dich heraushalten.
    Wie, fragte sie, wenn auch ich unsere Kraft bin.
    So kannst du vom Berg ins Tal beim Schafetreiben reden, auf der Parteisitzung mußt du die Gosche halten.
    Die Schulung dauerte den ganzen Januar. Pauls Mutter sagte, sie würde lieber vom ganzen großen Berg da draußen den Schnee wegtragen als diese Sprache üben. Ihr Mann gab auf.
    Daß ich zu Paul in den verrutschten Turmblock gezogen war, wußte man drei Tage später in der Fabrik, obwohl Paul es keinem Menschen erzählt hatte. Genauso schnell erfuhr es seine Mutter. Mit verwackelten Buchstaben und vielen Fehlern schrieb sie ihrem Sohn einen Brief mit der Anrede:
    Du mein Augenlicht, du mein Leben.
    Dann kam: Es gibt Mädchen, die gleichen Blumen und Engeln. Aber du mein Sohn hängst dir ein Tuch um, an dem sich schon alle abgewischt haben. Diese Frau liebt weder dich, noch ihr Land. Sie wird dein Herz vergiften. Bring sie nicht über meine Türschwelle. Du wirfst dein Leben in den Dreck. Ich bitte dich, mein Kind, mach Schluß mit ihr.
    Unter den Küssen stand

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