Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Titel: Heute wär ich mir lieber nicht begegnet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Müller
Vom Netzwerk:
egal wohin, wie aus der Schachtel. Dazu braucht man eine Arbeit, bei der man sich nicht dreckig macht. Er kann auch beides sein, bestimmt gibt es auch angeklagte Richter. Es gibt so leichte Gründe für schwere Fehler, bestimmt werden auch Leute, die passende Manschettenknöpfe tragen, angeklagt. Auch Richter, die alles, was per Gesetz verboten ist, auswendig kennen. Wenn ihre Kinder aber etwas tun, was nicht erlaubt ist. Die wachsen auch weg von zu Hause und sind nicht anders als Lilli und ich. Wer ist schon meine Mama, von ihr hat niemand was gewollt, als ich die Zettel schrieb. Tata war tot, Lillis Stiefvater schon in Rente. Wären er oder mein Tata Richter gewesen, was hätte Lilli vor der Flucht und ich vor dem Zettelschreiben danach gefragt. Auch Kinder von Richtern hören was über die Welt, fahren wie jeder in diesem Land ans Schwarze Meer. Schauen hinaus, und es zieht sie wie alle anderen vom Kopf zu den Zehen irgendwohin. Man muß es nicht schlecht haben, dennoch denkt man: Das hier kann nicht immer mein Leben sein. Wie Lilli und ich wissen auch Kinder von Richtern, daß bei den Soldaten an der Grenze der Himmel weitergeht bis nach Italien oder Kanada, wo es besser ist als hier. Das Glück sei mit mir, verlangen sich alle, aber nie von den Grenzern. Der eine von Gott, der andere vom leeren Himmel. Von wem auch immer, manchmal endet es gut. Manchmal rot wie ein ganzes Beet Klatschmohn, manchmal einsam übriggelassen wie bei Lillis Offizier, manchmal kreuz und quer wie bei mir. Ob früher, ob später, so oder anders, man hat es versucht.
     
     
    Paul kam barfuß nach Hause, die Notschuhe seiner Kollegen paßten ihm nicht. Er brauchte diesmal kein Hemd, es war ja heißer Sommer. Eine Hose mußte er sich borgen. Zwei Handbreit über den Knöcheln hörte sie auf, in die Breite ging Paul dreimal hinein, um die Hüften hatte er Draht gebunden. Zu Hause machte Paul sich über sein Aussehen lustig und tänzelte durch den Flur. Der Hintern hing ihm in die Kniekehlen. Er streckte die Arme aus und drehte mich immer schneller um sich. Ich hielt das Ohr an seinen Mund, er summte ein Lied, schloß die Augen und drückte meine Hand auf seine Brust. Ich spürte das rasche Pochen in der Hand und sagte:
    Tob nicht so, dein Herz fliegt wie eine wilde Taube.
    Wir tanzten langsamer, stellten die Ellbogen zwischen uns, die Hintern streckten wir weit hinaus, der Bauch und die Beine hatten Platz zum Schwingen. Paul stieß mir an die linke Hüfte und wippte, dann an die rechte, dann tanzte sein Bauch weg von mir, und meine Hüften wippten von allein. Im Kopf war nichts als dieser Takt.
    So tanzen alte Leute, sagte er, weißt du, daß mein Vater die eckigen Hüften meiner jungen Mutter Tangoknochen nannte.
    Ich stieß mit meinen rotlackierten an Pauls staubige Zehen und sang:
    Welt Welt Schwester Welt
    wann hab ich dich satt
    wenn mein Brot vertrocknet ist
    und die Hand mein Glas vergißt
    wenn das Sargbrett klopft um mich
    vielleicht dann hab ich dich satt
    wer geboren ist verzweifelt
    wer gestorben ist verfault ...
    So ein Dreinfinden, wir lachten durch das Lied, in dem der Tod daherkommt wie der geschenkte Teil des bezahlten Lebens. Wir schluckten das Lied im Lachen und kamen nicht aus dem Takt. Plötzlich stieß Paul mich weg und schrie:
    Au, der Reißverschluß zwickt.
    Ich wollte ihn öffnen, es ging nicht. Als er den Draht aus den Gürtelschleifen gezogen und in die Ecke geschmissen hatte, fiel der Hintern auf seine Fersen, und vorn blieb die Hose hängen. Ich sollte die eingeklemmten Schamhaare abschneiden und war vor Lachen nicht imstande dazu. Zittrig nahm Paul mir die Schere weg:
    Menschenskind, verschwinde.
    Wohin, fragte ich.
    Und ich ließ Paul selber machen, aber lachen mußte ich weiter, immer glucksender lachen, wie ein Anfall. Wieder solange lachen, bis ich darüber hinaus war. Tief ein- und ausatmen auf einmal, vor Luft platzen und keine mehr haben, das war das Ende. Aber der Anfang war Glück. Daß man aufs Lachen tanzen konnte, daß die kurze Leine riß, an der wir ständig angebunden waren. Daß uns ein Totenlied die Schläfen von innen warm anhauchte, muß Glück gewesen sein. Bis wir uns voreinander schämten, bis die Leine kürzer wurde als die Nase, solange war es Glück. Danach mußte Paul sich mit den Fingern durch die Haare fahren, und ich zog die Finger ein, drückte meine Nägel in die Hände wie ein bestraftes Kind.
    Diese Stille nach dem Glück, sie kam, als kriegten die Möbel eine Gänsehaut. Wir

Weitere Kostenlose Bücher