Heute wär ich mir lieber nicht begegnet
Augen, sagte Lilli. Wenn sie über ihre Mutter sprach, erwähnte sie auch den toten Soldaten, dem keine Zeit blieb, ihr Vater zu sein. Wenn ich mit Lilli in der Stadt war, und sie ihre Brieftasche benutzte, sah ich den weißgezackten Rand eines Fotos herausstehen. Einmal fragte ich:
Wen hast du da im Innenfach.
Erst steckte Lilli die Brieftasche in den Mantel, dann sagte sie:
Meinen Vater.
Ist er geheim, fragte ich.
Ja.
Warum erzählst du dann von ihm.
Weil du vorwitzig fragst.
Zuerst hast du von ihm erzählt, und dann hab ich gefragt.
Von dem Bild hab ich nichts erzählt.
Aber du kannst es doch zeigen, wenn er drauf ist. Wie soll er drauf sein, wenn er tot ist, sagte sie.
Ich fächelte die Hand vor meiner Stirn:
Bist du plemplem.
Lilli zog das Bild aus der Brieftasche und hielt es mir hin. Die Nase und die Augen hatte sie von ihm, der keine zwanzig war, schief lächelte und in einem Knopfloch der Soldatenjacke eine weißgezahnte Margarete trug. Ich griff nach dem Bild, Lilli schob meine Hand weg:
Schauen, nicht anfassen.
Ich klopfte Lilli mit dem Zeigefinger auf die Stirn.
Trulla, trulla.
Hast du dich satt gesehen.
Nein, du wackelst ja die ganze Zeit.
Da stellte Lilli das Bild auf den Kopf, das sah aus, ihr Vater hing an den Beinen. Die Kragenspitzen und die Mütze vorn waren mit Tusche übermalt, die Stellen glänzten, und das Bild war matt. Es war mir gleich aufgefallen, und auf den Kopf gestellt, sah man es auch. Verschämtheit macht die Augen klein, aber ihre wurden groß und vergaßen zu blinzeln. Lilli suchte Streit, aber nicht wegen der übermalten Stellen an der Uniform.
Steck es ein, sagte ich.
Warum, du schlürfst ihn doch mit den Augen. Pardon, schrie ich.
Wieso pardon, fragte sie.
Bist du eifersüchtig.
Du vielleicht, für mich ist er viel zu jung.
Jetzt wäre er gerade richtig.
Daran habe ich noch nie gedacht.
Ich schon, sagte ich.
Jeden Tag nach dem Dienst war ich froh, Nelu nicht mehr zu sehen. Ich ging vor den niedrigen, dreckigen Häusern an der Haltestelle auf und ab. Die Fenster hingen nur eine Spanne überm Gehsteig. Hinter den Vorhängen brannte im Winter schon nachmittags Licht. Das bißchen Eis glänzte in den Schlaglöchern wie verschüttete Milch, die Laster rasselten vorbei. Im Wirbel hinter den Rädern tauchte der tote Junge mit seinen Staubschlangen auf. Er konnte besser laufen, seit er tot war, und mein Tata besser fahren. Wenn die Straße das Rasseln und den Schneestaub geschluckt hatte, verlor sie die Richtung. Ich ließ eine Straßenbahn fahren, zwei oder drei. Paul arbeitete sowieso anderthalb Stunden länger als ich. Mich zog nichts nach Hause. Es kamen andere Laster, wenn ich Glück hatte, fuhr dazwischen auch ein Bus. Einmal rächten sich der Junge mit den Staubschlangen und mein Tata, weil sie zu oft auftauchen mußten. Es kam ein Mann mit einem Koffer zur Straßenbahn.
Im vergangenen Sommer mußte Paul nach der Arbeit wieder barfuß mit nacktem Oberkörper und in einer geliehenen Hose aufs Motorrad steigen. Alles, was er anhatte, war beim Duschen verschwunden – Hemd, Hose, Unterhose, Socken und Sandalen. Obwohl der Umkleideraum seit dem Frühjahr bewacht wurde, hatte Paul in diesem Sommer zum vierten Mal nach dem Duschen nichts mehr als seine Haut. In der Fabrik ist Stehlen keine schlechte Tat. Die Fabrik gehört dem Volk, und man ist aus dem Volk und nimmt sich sein Volkseigentum, Eisen, Blech, Holz, Schrauben und Draht, was es zu holen gibt. Und man sagt:
Am Tag nimmt man, in der Nacht stiehlt man.
Und nebenbei kommen dem einen die Socken weg, dem anderen das Hemd, dem dritten die Schuhe. Auch vor der Bewachung wurde niemand so oft bestohlen wie Paul. Und nur ihm wurde alles auf einmal genommen. Er hatte keine auffällige Kleidung. Die Blamage, daß Paul nackt in der Fabrik steht, war dem Dieb wichtiger als die Sachen. Paul wurde von jemandem gedemütigt. Er sah sich das Reden, Lachen, Essen, die Handgriffe bei der Arbeit, das Hin- und Herschlurfen in der Halle genau an. Alle taten das Gewöhnliche, aber einmal wird sich der Betreffende vergessen und Fehler machen, dachte Paul. Dann wollte er vor allen mit ihm abrechnen.
Wie denn, fragte ich.
Draufhauen, bis er quiekt wie eine Maus.
Manch einer schreit, daß man weiß, wann es reicht. Aber manch einer schweigt, da schlägt man drauf, bis er tot ist. Ich hatte Angst, Paul steigert sich in Blindheit, und sagte:
Einen Kleiderdieb zieht man aus und treibt ihn nackt durch die Fabrik, dann wird
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