Heute wär ich mir lieber nicht begegnet
ging, roch die Luft nach Mehl. Der Portier stand vor dem Tor der Brotfabrik und bürstete mit der Hand die Schuppen von seiner Uniformjacke. Er hob die Mütze und grüßte, ich kannte ihn nicht. Als ich vorbei war, gähnte er laut. Ich sah mich um, als hätt ich grad noch Glück gehabt, als gähne hinter den grauen Stöckelschuhen eine lockere Betonplatte. Diesem Ort war alles zuzutrauen, er war imstande, den Abend vor den Nachmittag zu lassen, damit die Sonne gleich hierherkommt, hinter der Brotfabrik im Feuer steht und kurz vor Nacht dunkel wie ein Brotblech sinkt. Ich dachte an den frühen Abend nach Tatas Begräbnis. Wir waren vom Friedhof nach Hause gekommen, mein Opa ging durch den Hof, öffnete den Wasserhahn und zog den Gartenschlauch zu den Pfirsichbäumen hinüber. Mama rief:
Doch nicht in diesem Anzug, zieh dich um.
Ich lief ihm nach. Der Dürre wegen, sagte er, als wären in der nächsten Viertelstunde die Pfirsiche verdurstet. Das Wasser spritzte, stand in schalen Blasen um die Stämme, voll mit ertrunkenen Ameisen. Die Erde trank langsam. Da sagte der Opa:
Ein Mal die Beine strecken, dann geht die Welt auf. Noch einmal, dann geht sie zu. Von da bis dort ein Furz in der Laterne, das nennt sich dann gelebt. Es lohnt sich nicht, dafür die Schuhe anzuziehen.
Nun hatte mein Opa die Beine das zweite Mal gestreckt. Ich wollte in den Zug, durch alle Maisfelder, bevor sie schwarz sind. Entlangfahren an allen kleinen Bahnhöfen, die aussahen wie Hundehütten. Weit weg sein, wenn Mama den letzten Teller auf den Tisch stellt. Es muß durch all die Jahre der Teller und der Hunger meines Bruders gewesen sein, aus dem sie aß. Darum konnte sie so gut allein sein, als wäre immer nur der eine Teller auf ihrem Tisch gewesen.
Als ich die hellblaue Fahrkarte ansah, wußte ich: So ein Glück, daß mich Tata nicht in seine Liebe einspannte. Sein Schneid war klüger als sein Hirn. So ein Glück, daß ihm der Schatten des fremden Fleisches lieber war als das Nasse meiner angebissenen Birne. Mama verdiente nicht einmal im Traum, daß ich sie jung vertrete und Tata in die ersten Liebesjahre mit ihr zurückversetz, um unsere Familie für die Langzöpfige zu verriegeln.
Bei Lilli war es anders, der zweite Mann ihrer Mutter war der erste, den Lilli kriegen konnte.
Er wurde nicht abstoßend, sagte Lilli, nur mit der Zeit gewöhnlich. Daß ich mit ihm, wenn meine Mutter weg war, etwas hatte, war selbstverständlicher als die gleiche Türklinke zu benutzen.
Lillis Geheimnis wurde Vergangenheit, als sie den Nachtportier mit der Kriegsnarbe im Nacken kennenlernte. Bis er in Rente ging, lag Lilli ab Mitternacht hinter der Schlüsselwand der Rezeption bei ihm. Danach ging sie abends in die Abstellkammer eines Ladens, die bis zum Fenstergriff voll Lederkleidung lag, bis der Händler mit seiner Frau aufs Land zog. Dann ins Krankenhaus, bis ihr Nachtarzt seinen Schwager in Buenos Aires besuchte und nicht zurückkam. Danach verlegte Lilli die Liebe auf den Nachmittag in die Dunkelkammer ihres Fotografen.
Große Eile macht Lust, sagte Lilli.
Die Sünde mit dem Stiefvater war lange her, aber Lillis Augen bekamen immer noch den Stich von geschliffenem Glas, wenn sie sagte:
Meine Mutter schläft mit ihrem zweiten Mann und deckt sich zu mit dem Tod ihres ersten.
Geheimnis und Eile waren wichtiger als das Gefühl. Außer dem alten Offizier hatte jeder Mann, mit dem sie etwas anfing, zu Hause eine Frau. Das erste Jahr mit dem Stiefvater war das riskanteste und schönste. Lilli gab es zu: Ach was, Geheimnis. Es hat sich immer so ergeben. Warum die Liebe erst krallig wie die Katze ist und mit der Zeit verschwindet wie die gefressene Maus, das ist ein Geheimnis, sagte Lilli.
Sie war Deutsche. Ihr Vater wurde frisch verheiratet eingezogen und im Krieg von einer Mine zerfetzt. Lillis Mutter war im zweiten Monat schwanger. Als Kriegswitwe bekam sie jedes Jahr zwei Hilfspakete vom Deutschen Roten Kreuz. Im einen war die Steppdecke, mit der sie sich seither zudeckte. In einem der anderen der blaue Rock mit den Igelfalten, den Lilli trug, weil er ihrer Mutter zu eng war. Auch wenn sonst niemand einen Rock mit Igelfalten hatte, schön war er nicht. Aus dünnem, hartem Stoff glänzte er, wie grad aus dem Wasser gezogen. Man wartete, daß er am Saum herum abtropft. Ich sagte:
Etwas für alte Frauen vielleicht, um die Hüften gebundenes Wellblech, damit man den Witwenspeck nicht sieht.
Ach was, er ist praktisch und blau steht mir gut zu den
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