Heute wär ich mir lieber nicht begegnet
nicht: Deine Mutter, sondern ihre Unterschrift, verschnörkelt und geübt, als wär die Frau belesen. Paul war sicher, daß jemand ihr den Brief diktiert hat. Die Koseworte waren ihm bekannt wie ihre Schrift.
Und wer hat ihr die Unterschrift gemalt.
Es ist ihre, sagte Paul.
Sie hat von seinem Vater unterschreiben gelernt, es ging ihr von der Hand wie Strümpfestopfen oder Schafemelken. Pauls Vater war der Meinung, Unterschriften sind das Spiegelbild des Menschen, man sieht den Unterschriften mehr an als den Augen. Da seine Frau selten schreiben, oft aber Formulare unterschreiben mußte in der Fabrik, hat er ihr, nach dem mißglückten Januar, wenigstens die Schnörkelei beigebracht, auf Zeitungsrändern mit ihr geübt. Dieser Brief ist der Grund, weshalb ich Pauls Mutter bis heute nicht kenne. Es gibt ein Foto, das Paul ein Jahr nach dem Tod seines Vaters, als sie die Trauerkleider ablegte, in einem Briefumschlag bekommen hat. Dauerwellen, ein rundes Gesicht, vom Alter aufgeschwemmt, als sei es gütig. Eine pensionierte Schlosserin, die nach der Trauerzeit zum ersten Mal wieder in der Konditorei sitzt und Kuchen ißt. Aus kurzen Ärmeln hängt ihr Fleisch lappig um die Ellbogen. Am Handgelenk trägt sie eine Männeruhr, den kleinen Löffel faßt sie mit allen fünf Fingern an. Mit der linken Hand preßt sie die Handtasche auf ihren Schoß.
Paul erzählt, sie hat auf einer Sitzung nicht geschwiegen und sich wegen der Zugluft in der Halle zu Wort gemeldet.
Die Männer haben es gut, sagte sie, ziehen zwei Paar lange Hosen an und erkälten sich nicht, aber uns Frauen zieht der Wind durch die Schnecke. Alle lachten, da hat sie groß geschaut und sich verbessert:
Also uns zieht der Wind durch die Angelegenheit. Nach der Sitzung auf dem Heimweg ohrfeigte Pauls Vater sie mit den Worten:
Begreifst du nicht, daß du auch mich völlig ruinierst.
Er lud seine Wut auf der Straße ab, konnte nicht mehr warten, bis sie zu Hause waren. Vielleicht auch, weil er sich dort nicht mehr getraut hätte. Es war das einzige Mal, daß er sie schlug. Ab dem nächsten Tag hatte sie den Spitznamen: Angelegenheit. Bis zur Rente wurde sie in der Fabrik nur so genannt.
Bevor Paul und ich heirateten, rief der Ingenieur ihn zu sich und sagte: Da hast du dir etwas gefischt, diese Dame verwechselt dich mit ihren Marcellos. Noch kannst du zurücktreten.
Was der sagte, scherte mich wenig. Was Paul geantwortet hat, war, wie immer, wenn etwas vollkommen richtig ist, zu gewagt:
Ich habe mich um Stalins Tochter beworben, sie ist leider schon vergeben.
Zu dieser Antwort kam unsere Heirat, der Ingenieur wartete auf Pauls nächsten Fehltritt. Und wenn Paul nicht gesagt hätte, daß die Arbeiter nackt aus der Industrie hervorgehen, wär ein anderer Vorwurf gekommen. Fehltritte fanden sich immer, gestohlene Kleider nie.
Gottseidank ist auf der Brücke keine Haltestelle. Den Fluß will ich nicht sehen, mir ist nicht angenehm, was er im Wasser führt. Ob es im Spiegel steht, was er gesehen hat oder in Wellen immer in dieselbe Richtung spült, allen verdreht er die Köpfe, mir sogar den Kehlkopf im Hals. Hinschauen muß ich doch. Die Weiden kommen mir größer vor, bei der Hitze steht das Wasser nicht hoch. Da geht die Sonne drüber, züngelt und brennt mit Nadeln. Der Mann mit der Mappe sitzt schief, blinzelt. Jetzt kommt er drauf, wozu seine Mappe gut ist, er stellt sie an die Scheibe. Mir nützt es auch, ich könnte, wenn ich nicht närrisch wär im Kopf vom Fluß, nur auf die Mappe schauen. An beiden Wagenseiten läuft das Geländer, und auf der einen ist die Mappe eingesetzt wie eine Schlupftür. Zwischen den Deckeln der Mappe sind Blätter, wahrscheinlich Gerichtspapiere mit Namen, Stempeln, Unterschriften und einer Tat. Es geht nie um etwas Gutes beim Gericht. Ist der Mann ein Außenstehender, der alles noch einmal in Ruhe lesen will, oder ein Beschuldigter, der vor der letzten Verhandlung eine Verschnaufpause bekommen hat. So oder anders, er hat es gut, er weiß, was in seiner Akte steht. Ich bin Punkt zehn bestellt, und er darf schon vor neun nach Hause fahren. Seine Kleidung ist ordentlich. Kann ein Angeklagter, der sich früh morgens fertig macht, noch auf passende Manschettenknöpfe, glatte Rasur, Bügelfalten und geputzte Schuhe achten. Grund hätte er natürlich, im Unterschied zu einem Richter sollte er, auch wenn es an der Tat nichts ändert, einen tadellosen Eindruck machen. Oder ist der mit der Mappe eitel und geht jeden Tag,
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