Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Titel: Heute wär ich mir lieber nicht begegnet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Müller
Vom Netzwerk:
wollte keinem mehr den Schneid abkaufen. Alle Neugierde lag hinter ihr, auch die für ihr Kind, das aus dem Haus geflattert war und selten wiederkam.
    Als mein Opa starb, blieb ich nur eine Nacht bei ihr im Haus. Ich fuhr am nächsten Nachmittag in die Großstadt zurück. Sie hätte ja sagen können, ich solle noch bleiben, ich hatte mir zwei Tage freigenommen. Auf meinem Bett lagen Plastiksäcke mit ihren Winterkleidern, ich schlief auf dem Kanapee, und sie dachte sich nichts dabei. Bevor ich zum Bahnhof mußte, deckte sie den Tisch. Sie stellte zwei Teller hin und aß, ohne zu merken, daß ich nur so tat, als ob. Früher sagte sie, ich sei schnausig, wenn ich keinen Hunger hatte. Jetzt war es ihr egal.
    Viele Jahre standen vier Teller auf dem Tisch. Das schien normal, da wir zu viert im Haus lebten. Bis Mama mir beichtete, daß es mich nur gab, weil mein Bruder gestorben war. Seither waren wir zu fünft, einer von uns aß aus dem Teller meines Bruders. Ich wußte nicht wer. Der Bruder hatte nie daraus gegessen.
    Er hielt die Brustwarze im Mund, aber er trank nicht mehr, sagte mein Opa, wir haben gar nicht gleich gesehen, daß er nicht schläft, daß er ...
    Weil der fünfte Teller nie auf den Tisch kam, blieben auch die vier nicht lange stehen. Der erste Teller wurde durch Tatas Tod überflüssig. Mein Weggang in die Großstadt räumte den zweiten vom Tisch. Durch den Tod meines Opas wurde der dritte unnütz.
     
     
    Die Straßenbahn hängt schief Vielleicht haben die Schienen sich von der Hitze verbogen. Die alte Frau hat es mit den Nerven, ihr Kopf zittert nach rechts und links, als würde sie immer nein sagen. Wann kommt der Markt, fragt sie. Der Schaffner sagt: Das dauert noch. Der junge Mann steht hinten an der Tür. Wir sind erst am Gericht, sagt er, sind Sie nicht von hier. Schon, schon, sagt die Alte, meine Brille ist gestern zerbrochen. Ich war in der Werkstatt, die haben keine Linsen, kein Klebzeug, kein nichts. Jetzt muß ich vierzehn Tage warten. Wär ich so alt wie sie, aber man kann ja nicht tauschen, nicht einmal mit Lilli oder mit Paul. Am Gericht möchte ich nie aussteigen müssen. Das wird sich klären beim Prozeß, da wirst du schon reden, sagt Albu, wenn er mit einer Antwort nicht zufrieden ist. Der Schaffner nimmt seinen dritten Kipfel aus der Hemdtasche, beißt hinein und legt ihn hin. Der Bissen rutscht ihm durch den Hals. Wenn das so lange dauert, krieg ich heute keine Eier, sagt die Alte. Die Straßenbahn hält. Einer im Anzug mit einer Mappe steigt ein. Dann kauf ich eben Pflaumen, sagt die Alte, schaut ihn an und kichert: Die krieg ich auch ganz nach Hause, die zerbrechen nicht. Für Kuchen brauchst du auch Eier, sagt der Schaffner, einen Schuß Rum und viel Zucker. Ja, ja, sagt die Alte, Männer, die gern Süßes essen.
     
     
    Während Mama und ich nach dem Begräbnis meines Opas aßen, fiel in der Zimmerecke der Besen um. Sein Stiel polterte auf den Boden. Ich sah Tata umfallen, und bei meinem Opa mußte es genauso gewesen sein. Ich faßte das Wasserglas an. Wenn Mama neugierig gewesen wäre, wie ich lebe, hätte ich von der Lüge in der Fabrik erzählt, vom Tod, den ich in meinen neuen, grauen Stöckelschuhen mitgebracht hatte. Sie stopfte sich ein Stück Brotkruste in den Mund, bevor sie aufstand und den Besen wieder in die Ecke hinstellte.
    Wenn in der Fabrik ein Kleiderbügel auf den Boden fiel, in der Straßenbahn ein Regenschirm, auf der Straße ein abgestelltes Fahrrad, spürte ich von beiden Schläfen kaltes Vinilin in die Stirnmitte laufen. Mama kaute und trank viel Waser, war sich dessen sicher, daß sie meine Mutter ist, ich nicht. Sie sah in den Teller und sagte:
    Weißt, einmal hab ich angefangen, dir zu schreiben. Ich saß im Café, da kam es mir so. Es muß im Mai oder Juni gewesen sein, jetzt haben wir was, ja schon September. Dann bin ich zur Post. Ich hatte die Briefmarke draufgeklebt, aber deine Adresse vergessen.
    Ich sah ihr in die Augen und wurde übers Eis geführt. Hast du meine Adresse noch, fragte ich.
    Auf einem Zettel, ich müßte sie nur suchen.
    Nicht Mama hatte ich zu ihr gesagt, nur du, wie man zu einem fremden Kind sagt, weil «Sie» nicht geht. Ihr zuzuhören war lästig, selber reden oder schweigen so beliebig, wie damals, als ich ohne Grund aus dem Haus geflattert bin, wie ich ohne Grund hätte bleiben können. Bürostellen gab es auch in der Kleinstadt genug, sogar in der Brotfabrik. Heute sagt man, es hat sich so ergeben.
    Als ich zum Bahnhof

Weitere Kostenlose Bücher