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Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Titel: Heute wär ich mir lieber nicht begegnet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Müller
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noch:
    Mir scheint, die Ungefickten tragen diesen Sommer Muschelketten, oder ist das getrocknete Taubenscheiße.
    Die Muschelkette sah wirklich so aus. Ich hörte im Weggehen meine Schritte, mir war ein wenig schlecht. Die Bartür stand offen, ich sah nicht hinein, ich sah in die Lindenbäume, von denen ich wußte, sie sind nicht besoffen. Die besoffenen Stimmen hörte ich doch. Der Geruch von Schnaps, Kaffee, Rauch, Desinfektionsmittel und Sommerstaub kam mir nach.
    In der Schusterwerkstatt war zum ersten Mal keine Musik. Auf dem Tisch fehlte der Kassettenrecorder, dessen Batterien mit einem Stück Hosengummi ans Gehäuse gebunden waren. Hinter dem Tisch saß ein junger Mann mit vorstehenden Zähnen, wenn er den Mund schloß, waren die Lippen nicht zu. Da er keine Schürze anhatte, glaubte ich, er sei der Schwiegersohn des Schusters, der Akkordeonspieler. Ich fragte nach dem alten Schuster. Der junge Mann schlug vier Kreuze und sagte:
    Tot.
    Wo liegt er, fragte ich.
    Er fischte in einer Schublade, nach einem Zettel dachte ich, aber er nahm sich eine Zigarette.
    Bringen Sie Schuhe, oder kommen Sie Gräber suchen.
    Ich wickelte die Schuhe aus der Zeitung, er blies den Rauch geradeaus und sah mir auf die Finger, als könnte man von Schuhen im Papier erschossen werden.
    War der Schuster krank, fragte ich.
    Er nickte.
    Was hatte er.
    Kein Geld, sagte der Junge.
    Hat er sich umgebracht.
    Wieso.
    Ich frage Sie, ich weiß es nicht.
    Er schüttelte den Kopf.
    Wenn ein Alter stirbt, kann ein Junger nichts dafür, dachte ich, aber Mitleid haben kann er. Dieses Schiefmaul ist froh, daß zwischen den Läden, wo von morgens bis abends Kunden kommen, eine Werkstatt frei geworden ist.
    Als er die Kippe in einer Konservenbüchse ausdrückte, sagte er:
    Das Grab ist in der Maulbeerstraße, reicht das, oder muß ich auch wissen, in welcher Reihe.
    Es reicht schon länger als Sie glauben.
    Mir auch, sagte er, aber seit März, seit ich hier bin, muß ich über den alten Schuster reden.
    Ich dachte, Sie sind sein Schwiegersohn, sagte ich.
    Gott behüte. Ich war den ersten Tag hier, da kam einer mit einem blau und grün geschlagenen Auge, der sah aus wie ein Kanarienvogel und räumte vor meiner Nase die Werkstatt leer. Leder, Hämmer, Leisten, Schnallen und Nägel hat er weggeschleppt, sogar das Schmirgelpapier, Schuhcreme und die Bürsten. Es gehört nicht der Werkstatt, hat er mir erzählt. Wieso Mensch, ich habe nichts mitgebracht, alles meinem Nachfolger in der Josefstadt gelassen. Wenn ich will, kann ich es ihm abkaufen, sagte er. Wissen Sie, die warteten zu Hause, die hatten nicht einmal mehr Geld für Brot im Haus. Ich bin doch nicht auf den Kopf gefallen, ich kauf doch nicht, was mir gehört.
    Der Schuster hatte viel Kundschaft, sagte ich, dann hatte er auch Geld.
    Seine Tochter hat alles versoffen, sagte der Junge, und den Schwiegersohn verprügelt, darum sah der so aus. Ich hab ihn gefragt, als er hier abräumte, ob er auch Schuster sei. Da hat er seine elendigen, weißen Finger gespreizt und gesagt: Was, seh ich so aus wie du. Also, was will er dann mit dem Zeug, hab ich gefragt. Akkordeon spielen, hat er gesagt. Ach ja, daher hast du die blauen Flecken, hab ich gesagt. Nein, hat er gesagt, die hat meine Frau mir geschenkt. In der Bar sitzen immer zwei Polizisten, ich hab überlegt, ob ich sie holen soll. Aber die hiesigen kennen mich noch nicht so gut, das bringt nur Unannehmlichkeiten. Der Akkordeonspieler hätte womöglich noch behauptet, ich hab ihn so wie einen Kanarienvogel zugerichtet. Eigentlich hätte ich es tun sollen, ihm das andere Auge auch noch blau klopfen, das hätte er verdient.
    In der Maulbeerstraße stehen nur Akazien. Der Trinker wohnt am Straßenanfang. Am Straßenende liegt Lilli. Und jetzt auch der Schuster. Der alte Schuster war dürr und klein, hatte aber große Hände und gewölbte Fingernägel, bräunlich vom Leder verfärbt, schön wie zehn geröstete Kürbiskerne. Wenn ich in die Werkstatt kam, fuhr er sich mit der Hand über den Kopf, als wären dort Haare drauf. Seine Glatze schwitzte in der leisen Volksmusik des Kassettenrecorders und glänzte wie die Glaskugeln in den Blumengärten vor den Häusern. Man konnte meinen, sie zerbricht, wenn er sich anstößt.
    Na, sind die Schuhe wieder durchgetanzt, scherzte er. Ich weiß nicht, ob er scherzte. Ich weiß nur, daß ich, kurz bevor ich in die Werkstatt kam und vor dem neuen Schuster stand, zum ersten Mal wirklich getanzt hatte auf ein Lied, in dem

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