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Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Titel: Heute wär ich mir lieber nicht begegnet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Müller
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den Städten andere als auf dem Dorf. Tanzen lernt man als kleines Kind von den Eltern und Verwandten. Da war deine Familie leichtfertig, wenn du es nicht gelernt hast, da hast du was versäumt.
    Nein, sagte ich, da war meine Familie eher schwermütig als leichtfertig, nach dem Lager war bei uns im Haus keiner mehr so lustig.
    Das ist doch schon mit tausend Wassern weggeflossen, das war vor deinem Leben, sagte er. Manchen Menschen glückt das Leben nicht, und sie reden sich heraus. Sie haben einmal Pech gehabt, und nehmen das als Ursache für alles. Na bitteschön, du bist zu jung, aber ich bin alt genug. Glaub mir, auch ohne Lager wäre denen das Leben nicht geglückt.
    Es war Silvester, die Paraputch, so nannte mein Schwiegervater die Großfamilie, feierte im Wohnzimmer der Schwiegereltern. Ich werd nie genau wissen, was Paraputch bedeutet. Für mich klang es wie Rudel, weil die Familie so groß und jeder auf seine Art windig war. Und obwohl keiner den anderen ausstehen konnte, trafen sie ständig zusammen. Schon mein Schwiegervater allein war mindestens zwei Personen. Er machte sich ein Nest in jeder Brust und konnte dann gut von innen in die Rippen treten.
    David, Olga, Valentin, Maria, George und noch ein paar andere waren da. Was weiß ich, welcher Name zu wem gehörte. Alle hatten die Schuhe ausgezogen, ich zählte zehn Paar neben der Tür. Der jüngste und älteste Bruder meines Schwiegervaters mit einer dicken und einer vertrockneten Ehefrau waren gekommen. Der mittlere Bruder lag krank zu Hause im Bett, aber seine Frau war mit ihrem Bruder und ihrer oder seiner ältesten Tochter und einem Schwiegersohn hier. Der Schwiegersohn war besoffen wie eine Hacke. Kaum, daß mein Schwiegervater ihm den Mantel abgenommen hatte, mußte er mit Hut und Schal im Bad kotzen. Gemerkt habe ich mir in dieser Nacht zwei Namen: Anastasija und Martin. Anastasija, wie meine tote Oma, hieß die Kusine meines Schwiegervaters. Sie war um die Fünfzig, angeblich noch Jungfrau und seit dreißig Jahren Buchhalterin in der Keksfabrik. Und Martin war der verwitwete Gärtner und Kollege meines Schwiegervaters. Martin sollte Anastasija auf diesem Silvester erobern.
    Sie ist aus kühlem Fleisch gemacht, sagte mein Schwiegervater, aber irgendwann geht bei jedem der Knopf auf.
    Sieben, acht Mal im Jahr, wenn die Verwandtschaft kam, drehte mein Schwiegervater das Bild im Wohnzimmer mit dem Rücken nach vorne. Man sah die Paraputch: seine Eltern mit ihren sechs Kindern. Mutter und Vater auf dem Kutschbock mit je einem Mädchen auf dem Schoß. Die Jungen saßen je zwei auf dem Rücken der beiden braunen Pferde. An allen anderen Tagen hing ein weißes Pferd im Zimmer, auf dem ein junger Mann mit kurzer Peitsche, in glänzenden Reiterstiefeln saß. Es war mein Schwiegervater und war es nicht, er hieß damals anders als jetzt.
    Ich tanzte mit meinem Mann, bat, mich nicht zu drehen, und wir wippten hin und her. Wenn sein Vater dabei war, blieb er gelassen. Ich tanzte mit dem Schwiegersohn, der nach dem Kotzen nicht mehr so besoffen war wie bei der Ankunft. Seine Füße blieben hängen, im Foxtrott verlor er eine Socke. Martin hob sie auf und hängte sie an einen Arm des Kronleuchters. Dann der Tanz mit seinem Schwiegervater oder Onkel, dann mit den Brüdern meines Schwiegervaters, dann mit Martin. Die alten Männer hatten feste Griffe, Tänzer ohne Worte, ich mußte mich stumm drehen lassen. Als mein Schwiegervater mit offenen Armen und gelockerter Krawatte vor mir stand, sagte ich:
    Setzt dich zu mir an den Tisch, man kann doch auch erzählen.
    Ach was, sagte er, tanzen hält jung.
    Er war kurz davor im Bad, sein Parfüm wehte. Er nahm sich aus dem Schälchen an der Tischecke eine von den Likörkirschen, die nach Kompott schmecken und einen besoffen machen. Ich hatte schon ein paar zuviel gegessen und ihren Dunst im Kopf. Mein Schwiegervater steckte die Kirsche in den Mund und lutschte den roten Saft von seinem Zeigefinger ab. Seine andere Hand winkte, bis ich aufstand. Er nuckelte an diesem Kirschkern und drückte mir die Hand ins Kreuz, bis ich spürte, was er in der Hose hat. Ich war nicht neugierig darauf, auch ein Jahr später nicht, als sein Sohn zum Militärdienst einrückte. Ich räumte Handtücher in den Schrank, und er kniete sich hinter mich und küßte mir die Waden.
    Komm, du wirst sehen, es hilft dir über seine Abwesenheit.
    Ich preßte die Beine zusammen und schloß den Schrank und sagte:
    Ich kann dich nicht leiden.
    Er hätte ja

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