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Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Titel: Heute wär ich mir lieber nicht begegnet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Müller
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Erde steckte, blühte. Doch in ihrem letzten Sommer zu Hause trieben ihre Dahlien mitten im Wachsen fremde Blätter von Kaiserkronen, Zinnien, Rittersporn und Phlox. So kam es dann auch bei den Blüten, an jedem Stiel ein großes Durcheinander. Die Dahlien waren ein Wunder, aber irr. Am Zaun draußen blieben die Leute stehen. Vor dem Verblühen hackte meine Tochter alle Dahlien aus, damit der Wind den Irrsinnssamen nicht herumstreuen kann. Die Vera war immer ein stiller Mensch gewesen, aber seit die Dahlien blühten, sagte sie kaum noch ein Wort. Da sie körperlich gesund und im Haus für nichts mehr zu gebrauchen war, schickte meine Tochter sie täglich einkaufen. Wenn Vera aus dem Laden kam, brachte sie Bohnen statt Kartoffeln, Essig statt Mineralwasser, Streichhölzer statt Klopapier. Als es sich nicht besserte, gab meine Tochter ihr einen Einkaufszettel mit. Meine vergeßliche Vera zeigte den Zettel im Laden, kam aber wieder mit Schnürsenkeln statt Zahnpasta, Reißnägeln statt Zigaretten nach Hause. Da ging meine Tochter sofort in den Laden. Der Verkäufer und die Kassiererin konnten sich an die Frau mit dem Zettel erinnern. Nein, sagten sie, die hat weder Schnürsenkel noch Reißnägel gekauft, sondern Zahnpasta und Zigaretten, genauso wie es auf dem Zettel stand. Schnürsenkel haben wir gar nicht, die sind seit Wochen bestellt, aber noch nicht geliefert worden. Und Reißnägel führt unser Laden sowieso nicht. Die Vera wurde nur noch eine Stunde am Vormittag spazieren geschickt. Sie kam oft mit einer anderen Handtasche zurück. Meist war der Ausweis drin. So konnte meine Tochter die fremde Tasche anhand der Adresse abgeben und die ihrer Mutter zurücknehmen. Als sich die eigene Handtasche der Vera nicht mehr fand und immer mehr fremde ins Haus kamen, durfte die Vera nur noch mit leeren Händen weggehen. Wenn sie wiederkam, trug sie statt ihres Kopftuchs einen Hut. Im Winter ließen wir sie der Kälte wegen nicht hinaus. Und im nächsten Frühjahr ging sie noch dreimal im Kleid auf die Straße und kam außer Atem in Rock und Bluse zurück. Daraufhin willigte ich ein, die Vera ins Irrenhaus zu bringen. Es gab gar keinen Kleiderladen weit und breit, sagte der alte Schuster, mit Stehlen hat das alles nichts zu tun, und eines ist sicher, gestohlen hätte die Vera nie. Auch die Leute aus der Nachbarschaft sagten, daß die Vera auf der Straße immer einen ganz normalen Eindruck machte, fast zu unauffällig sagten sie. Aber wenn man sie grüßte, gab sie den Gruß nicht zurück. Sie sagte im Gehen:
    Ich muß mich beeilen, ich hab den Reis auf dem Feuer.
    Der alte Schuster stellte Daumen und Zeigefinger an seine Mundwinkel. Das ist heute nicht mehr wichtig, eine Nebensache, wie so vieles im Leben.
    Auch ich erzählte dem alten Schuster von meiner toten Oma, und daß mein Opa nach dem Tod meines Tatas gesagt hatte, das Leben sei ein Furz in der Laterne, es lohnt sich nicht die Schuhe anzuziehen.
    Da hat er Recht, meinte der Schuster, das muß ein halber Philosoph sein, ein dummer Mensch sagt sowas nicht.
    Dann zeigte er zur Holzwand, wo an jedem Nagel Schuhe hingen:
    Schauen Sie her, das mit den Schuhen sehe ich anders, sonst hätte ich kein Brot zum Beißen.
    Unter die Lippen gespannt, verwandelte sich die vom Lederwachs vergilbte Haut zwischen dem Daumen und Zeigefinger des Schusters in eine Schwimmhaut.
    Meine Vera, die hat sich wenigstens selbst soweit gebracht. Aber im Irrenhaus mit ihr sind zwei junge Frauen, die wurden irr bei der Polizei und haben nichts getan. Die eine hat Kerzenwachs aus der Fabrik gestohlen, die andere einen Sack Maiskolben vom Feld. Jetzt sagen Sie, was ist das schon.
    Ich habe weder Gummi noch Leder für Halbsohlen, sagte der junge Schuster. Er schlüpfte mit den Händen in Pauls Sandalen, wie in Fäustlinge, drehte sie mit den Sohlen nach oben und sah die zertretene Brombeere an. Seine vorstehenden Zähne gingen auf und zu, ich war in Gedanken woanders. Der Junge mit den Staubschlangen war tot, weil ich keine Geduld zum Spielen hatte. Mein Tata, weil er sich nicht mehr vor mir verstecken wollte. Mein Opa, weil ich mit seinem Tod gelogen hatte. Und Lilli, weil ich kugelrunde Sonne gesagt hatte. Der alte Schuster, weil ich auf das Sattwerden der Welt getanzt hatte. Das Schiefmaul wickelte die Sandalen wieder in die Zeitung.
    Schauen Sie in zehn Tagen herein, dann sehen wir weiter. Ich sah schon weit genug, nickte und ging.
    Auf der Ladenstraße flog Wind, die Linden ließen grüne

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