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Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Titel: Heute wär ich mir lieber nicht begegnet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Müller
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die sollen sich Jüngere suchen.
    Sie stellte sich in seinen Weg. Der Stiefvater steckte die Brieftasche ein und schubste sie weg:
    Ein Machtwort sprechen, und wo bitteschön ist meine Macht, hast du eine Ahnung. Zu Hause, da bist du groß, schrie er, aber auf dem Markt drückst du mir schnell die Melone in die Hand, machst deine rechte Pfote frei, damit dir das Kamel von Leutnant seinen Handkuß geben kann. Und dann sagst du als Frau auch noch: Die Ehre ist meinerseits. Hier zu Hause packt dich die große Courage, aber wenn so einer auftaucht, kannst du die Spucke im Mund nicht mehr schlucken vor Angst. Nimm lieber deine Herztropfen.
    Ich wollte wissen, wie das Leben spielt, und ging auf dem Heimweg vom Schuster alle Möglichkeiten vom Sattwerden der Welt durch. Die erste und beste: Nie bestellt und nie irr werden, wie die meisten. Nie bestellt, aber irr werden, wie die Frau des Schusters und Frau Micu neben dem Eingang unten, ist die zweite. Die dritte: Bestellt und irr werden, wie die zwei um den Verstand gebrachten Frauen in der Anstalt. Bestellt und nie irr werden, wie Paul und ich, das ist die vierte. Nicht besonders gut, aber in unserem Fall die beste Möglichkeit. Auf dem Gehsteig lag eine zerquetschte Pflaume, Wespen fraßen sich satt, neugeschlüpfte und alte. Wenn eine ganze Familie Platz hat auf einer Pflaume, wie muß das sein. Die Sonne zog es aus der Stadt in die Felder. Auf den ersten Blick war sie grell geschminkt für den Abend, auf den zweiten war sie angeschossen – rot wie ein ganzes Beet Klatschmohn, hatte Lillis Offizier gesagt. Ja, das ist die fünfte Möglichkeit: Sehr jung sein, schön bis zum Gehtnichtmehr, nicht irr im Kopf, aber tot. Um tot zu sein muß man nicht Lilli heißen.
    Ich trug die durchgelaufenen Sandalen wieder nach Hause. Das rote Auto stand nicht mehr auf dem Gehsteig, dem leeren Asphalt sah man nichts an, die Zigarettenkippen wußten nicht, was war. In den Mülltonnen rumpelten Katzen, suchten was zu fressen, bevor die Nacht alle Reviere aufhob und mit Grünlicht in den Augen fremde Katzen kamen, sich bedienten, bis das Jammern des Hungers und das Jaulen der Paarung eins wurden. Im Vergleich zu diesem Sommerabend war mein Gesicht kühl. Aus dem Wohnblock daneben klirrte Geschirr, jemand hatte etwas fallen lassen. Die Leute aßen um diese Zeit. Im halben Mond bahnte sich das Gesicht einer Ziege an und das eines Hundes. Er mußte sich entscheiden, welches tauglich war für diese Nacht, die Zeit war knapp. Vom ersten Stock tropften Blumenkisten. Eine Windrosette drehte sich und schnurrte zwischen den Petunien, die viel Wasser hatten, um zu wachsen, wenn sich der Mond für ein Gesicht entschieden hat. Ich hatte an diesem Tag viel getan, aller Fehlschläge zum Trotz die beste Möglichkeit für uns gefunden :
    Wir beide werden nicht irr.
    Mein verkehrtes Glück pochte frech in den Schläfen, ich war nicht die Dümmste. Jetzt hatten die Läden schon zu, und unser Küchenfenster Licht. Paul wird warten mit zwei Paar neuen Schuhen und der Frage, welche er anziehen und welche er in seinen Werkzeugschrank legen soll. Die schöneren soll er anziehen. Vielleicht werden seine schöneren für mich die häßlicheren sein, wie auf dem Foto von Lilli. Ich hab nur ein Foto von ihr, ich gebe zu, ich schaue es oft an. Wenn ich von ihrer Schönheit rede, an der niemand zweifelt, runzelt Paul die Stirn.
    Was soll an ihr so schön gewesen sein, du gefällst mir besser, ich lüge nicht. Das Schönste an ihr, du hast sie sehr gemocht.
    Da will ich kein Gesicht mehr, wenn ich das hör, da mußte ich schon öfter sagen:
    Paul, du hast ein gutes Herz, aber einen schlechten Geschmack.
    Doch an diesem Abend wollte ich Paul beim Schuheprobieren von den Glasaugen in der Vitrine erzählen und von der Möglichkeit, daß wir nicht irr werden, und vor allem, daß ich nicht die Dümmste bin.
    Neben dem Wohnblock stand ein Motorrad, dessen Spiegel und Licht abgebrochen, dessen Sitze zerrissen, dessen Lenkstange und Pedale verbogen waren. Pauls rote Java, mir lief Gänsehaut unters Haar. Während ich auf den Lift wartete, war mir, als sei ich nicht in meiner Haut, sondern verteilt in den Briefkästen an der Wand. Aber die Briefkästen blieben dort hängen, als der Lift aufging, und wer einstieg, das war ich, die Allerdümmste.
    Auf der Rückfahrt vom Laden fährt ein grauer Laster hinter Paul, er bleibt die ganze Zeit im Rückspiegel. Paul will ihn vorbeilassen und fährt an den Rand. Es ist wenig Verkehr. Er

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