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Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Titel: Heute wär ich mir lieber nicht begegnet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Müller
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Erbsenbündel fallen. An jedem Bündel zwei Lederblättchen. Die hatten mit den herzförmig gezackten an den Ästen nichts zu tun. Oben am Himmel, im Sommerabend, stand ein Kanapee aus weißen Wolken. Aus der Apothekentür schlüpfte eine Frau mit einem Fläschchen in der Hand. Die Flüssigkeit, der Mullstopfen und der Daumen der Frau waren indigoblau. Ich fragte nach der Uhrzeit. Die Frau sagte:
    Gleich halb neun.
    Nicht in zehn Tagen, wie der junge Schuster meinte, sondern an dem Tag zwischen sieben und halb neun wollte ich etwas für Paul tun. Es war mir nicht gelungen. Die Apothekerin saß, mit dem Rücken zur Straße, barfüßig in der Vitrine neben einem Haufen kleiner, chinesisch beschrifteter Schachteln, in die nicht einmal ein Mantelknopf hineinging. Sie ähnelten den Präservativschachteln, auf denen außer dem Chinesischen noch Butterfly stand. Lilli hatte mal gesagt:
    Die Chinesen sind schlau, ihre fehlerlosen Gummis exportieren sie nach Amerika für die Chinesen in Chinatown, einem Viertel in New York. Die löchrigen schicken sie den Bulgaren und uns.
    In den Schachteln der Apothekerin war je ein Wattebausch und in jedem Wattebausch ein Glasauge. Sie legte die hell- und dunkelbraunen, grüngesprenkelten, hell- und dunkelblauen Glasaugen in eine Reihe aufs nackte Holz. Die hellbraunen Augen paßten in Pauls Kopf, ich zählte sie. Dann die dunkelbraunen für mich. Für Paul gab es mehr Augen in der Apotheke. Hinter Glas, in der tiefroten Sonne, begann die Apothekerin die zweite Reihe auszulegen. Sie saß in einem Aquarium. Ich klopfte an die Scheibe, sie drehte den Kopf, strich das Haar aus der Stirn und machte weiter. Die graugrün gesprenkelten Augen waren für sie.
    Das weiße Kanapee am Himmel, die Apothekerin im Aquarium, die Erbsen in den Linden, Pauls Sandalen als Fäustlinge des jungen Schusters, die Maulbeerstraße mit Akazien – nach dem Tod des alten Schusters hielt sich nichts mehr im Zaum. Der Wind hat nicht den Irrsinnssamen von Veras Dahlien in die Stadt gestreut, aber den Schwindel gesät zwischen Schnürsenkeln und Zahnpasta, Zigaretten und Reißnägeln, Kopftuch und Hut. Nun wird Blindheit empfohlen an diesem roten Abend in der Stadt, es gibt Glasaugen für jeden. Aber das Sargbrett klopft besonders denen, die sich im Tanzen auf das Sattwerden der Welt ein Glück machen wollen. Ja, so hätten wir es gern, daß wir die Krone tragen und die Welt sattwerden. Aber ist es nicht umgekehrt, daß die Welt uns satt wird, und nicht wir sie.
    Uns, das sind bei weitem nicht alle. Nicht alle werden irr, wie auch nicht alle bestellt werden. Lilli wurde nicht bestellt, obwohl ich nach meinen ersten Zetteln wochenlang damit rechnete. Ich wollte sie darauf vorbereiten, daß ihr beim ersten Verhör der Gaumen süßlich ins Hirn steigt. Auch beim zweiten, und allen, aber man erschrickt nicht mehr. Lilli hatte keine Angst.
    Ich hab deine Zettel doch nicht gesehen.
    Als wär das ein Grund, nicht bestellt zu werden. Als wären nicht jene, die nichts wissen, außer wie vor Angst das Herz springt, die leichteste Beute. Mit dem Gaumen im Hirn unterschreibt man schnell. Wahrscheinlich wurden Nelu und die Mädchen aus der Verpackungshalle über mich befragt. Nelu haßte mich, und die Mädchen kannten mich kaum, denen war ich egal. Sie mir auch, aber daß denen, schon wenn auf dem Flur draußen eine Tür ging, das Reden im Hals stecken blieb, besagte nichts Gutes.
    Lilli hatte recht, sie wurde nie bestellt. Ein Glück, auch wenn sie mich in Schutz genommen hätte. Sich selber hätte sie nicht schützen können. Das einzige, was Lilli mich über die Verhöre fragte, war:
    Wie alt ist denn dein Major.
    Du bist gut, wieso meiner, sagte ich.
    Ich machte ihn um zehn Jahre jünger.
    Um die Vierzig.
    Du meine Güte, sagte Lilli, jetzt wo er für sie nicht mehr in Frage kam. Da wußte ich, schon beim ersten Mal wären Albus Finger an Lillis Fleisch gegangen. Sie hätte eingewilligt oder zugemacht, für beides hätte er sich hart gerächt. Ein paar Tage nach diesem Gespräch sagte Lilli, ihre Eltern hätten Streit gehabt. Ihre Mutter wollte den Stiefvater nicht aus dem Haus lassen. Der Grund war ein Rendezvous, aber nicht mit einer Frau. Vom Zeitungskiosk am Park war die Rede, wo ihr Stiefvater nachmittags um fünf erscheinen sollte. Lillis Mutter sagte:
    Heut bleibst du mal hier, ich ruf in der Zentrale an und sage denen, du bist krank. Wozu wachsen überall, wo man hinschaut, Kinder nach, du mußt ein Machtwort sprechen,

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