Heute wär ich mir lieber nicht begegnet
Erwachsenen hatten nach dem Singen und Beten viel miteinander zu reden, die Kinder durften wieder lachen und zappeln. Eine alte Frau in schwarzen Kleidern und weißen Strümpfen ging durch die Platanenallee wie durch ein Tal und rief:
Georgiana.
Und es kam niemand zu ihr. Aber es stand einige Bäume weiter ein Mädchen mit einer roten Schleife auf der Kopfmitte an einem Müllkorb, klopfte mit dem roten Lackschuh auf den Asphalt und sang ein Lied. Zwischen den Erwachsenen, die im Trott ihres Gesprächs weitergegangen waren und dem Kind, das nicht kam, stand die Alte und wußte nicht, was sie tun sollte. Ich sah mich im Fahren um, bis mein Nacken zu kurz war. Die schwarzen Kleider verloren sich, und das Motorrad summte mir durch alle Finger.
Ein Leben lang ging Tata sonntags in die Kirche. Wenn Mama, Opa und ich nicht mitkamen, ging er allein. Auf dem Heimweg genehmigte er sich im Stehen, in der Bodega hinterm Park, einen Schnaps und eine ausländische Zigarette. Pünktlich um eins saß er am Tisch zum Mittagessen. Sogar die letzten Jahre, als er bis in die Knochen voller Sünden war, ging er in die Kirche. Mit diesem Sündenhaufen wäre ich an seiner Stelle zuhaus geblieben. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er Gott sonntags versprach, mit der Langzöpfigen Schluß zu machen, wo er doch für den nächsten Tag schon verabredet war. Ich hatte es beobachtet, montags kam die Langzöpfige ohne Kind auf den Markt. Denn wie mein Tata neben seiner Frau zählte sie neben ihrem Mann sonntags die Stunden. Montags abends konnten weder ein Herrgott noch der Teufel die beiden voneinander abhalten. Sonntags hatten wir zum Mittagessen zwei Hühner auf dem Tisch, und was übrig blieb, aßen wir zu Nacht. Mein Tata aß von beiden Hühnerköpfen die Kämme, weil er sie montags für die Sünde brauchte. Und ich teilte mir mit dem Opa das Hirn, damit ich so schweigen lerne wie er. Schon möglich, daß mein Tata Gott gebeten hat, ihm die Sünde zu erlauben, wo der Herr doch wissen mußte, daß mit meiner Mama nicht viel los war. Rechts neben der Kirchtür hing Jesus, auf Mundhöhe, damit ihm die Großen beim Kommen und Gehen die Füße küssen. Die Kinder wurden an den Hüften hochgehoben. Solange es nötig war, hoben meine Mama oder der Opa mich hoch, mein Tata nie. Jesus hatte keine Zehen mehr, alle waren weggeküßt. Als Kind hat Tata mir gesagt:
Diese Küsse bleiben. Wenn man stirbt und vor dem letzten Gericht steht, leuchten sie um den Mund. Man wird erkannt und kommt ins Paradies.
In welcher Farbe leuchten sie, fragte ich.
Gelb.
Und die Küsse, die wir uns geben.
Die leuchten nicht, weil sie nicht bleiben, sagte er.
Jeder, der im Umkreis der Heiligen-Teodor-Kirche wohnte, trug ein bißchen Staub von Jesus Zehen auf den Lippen. Als ich die Langzöpfige ablösen wollte und mein Tata nicht von ihrem Fleisch rückte, hoffte ich, daß auch ihre Küsse bleiben. Daß sie vor dem letzten Gericht zwischen den Zehenküssen dunkel leuchten und den Schwindler verraten.
Lilli sagte einmal, ihre Mutter gehe nicht mehr in die Kirche, weil die Messe heutzutage mit der Fürbitte für den Staatschef anfängt.
Schön und gut, sagte ich, aber daß ihr Mann mit seinen alten Knochen jede Woche zu den Treffs am Zeitungskiosk geht, damit kann sie leben.
Sie kann, sagte Lilli, weil sie muß.
Mein Kopf war noch vom Fahren überschwemmt, obwohl Paul und ich schon eine Weile im Jagdwald saßen. Auf dem letzten Wegstück, durch Wald, schlugen die tiefen Äste uns ins Haar. Die Bäume summten grün, der ganze Himmel war aus Laub. Ich bettelte mit eingezogenem Nacken:
Nicht so schnell.
Paul schob seinen Stuhl dicht an meinen und küßte mich mit Bierschaum am Mund. Ich war noch benommen vom Fahren, das Küssen kam dazu. Mein Herz schlug hin und her am dünnsten Faden. Ich wollte klar bleiben, nur gab mir das Glück keine Zeit. Viel zu langsam verstand ich, daß ein dreckiger Flohmarkt mit Krempel und Menschen, von denen ich nichts wollte außer Geld, Glück bringen kann. Daß das Glück im Kopf keine Zeit braucht, sondern den guten Zufall. Meine Finger mal am warmen Hals unter Pauls Kinn, mal am kalten der Bierflasche. Da wir so wenig voneinander wußten, redeten wir viel, das meiste nicht über uns. Paul hatte sechs Flaschen Bier getrunken und vertrug noch mehr, als am späteren Nachmittag Familien in den Wald kamen. Nach dem Mittagessen in den Wohnblocks wollten sie, vor der nächsten in die Fabrik gesperrten Woche, den Himmel noch eine Weile in
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