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Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Titel: Heute wär ich mir lieber nicht begegnet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Müller
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hat dein Chirurg versprochen, die Tür wächst wieder zu.
    Hinterm Fensterglas flogen drei Schwalben durch ein Stück Himmel. Entweder flogen sie vorneweg, oder sie waren nur zu dritt und hatten mit denen, die hinterher kamen und nicht zu zählen waren, nichts zu tun. Ich hätt das Zählen lassen sollen und bewegte schon die Lippen.
    Willst du wissen, wieviele es sind, fragte Paul.
    Ich zähl vieles ab. Zigarettenkippen, Bäume, Zaunlatten, Wolken oder Steinplatten von einem Telegraphenmast zum nächsten, die Fenster morgens bis zur Haltestelle oder Fußgänger aus dem Bus von einer Station zur anderen, rote Krawatten an einem Nachmittag in der Stadt. Die Schritte vom Büro zum Fabriktor. So hält man die Welt in Ordnung, sagte ich.
    Paul brachte ein Bild aus dem Zimmer, an der Wand hat es nicht gehangen, sonst hätt ich es gesehen. Aber es war eingerahmt, unterm Glas lag eine gepreßte Küchenschabe.
    Als mein Vater starb, hab ich das Foto eingerahmt und im Zimmer aufgehängt. Zwei Tage hing es, dann war die Küchenschabe da, sie ist in die Familie eingetreten. Die Schabe hat schon recht, wenn einer stirbt, tut man aus Angst um sich selber, als hätte man ihn mehr geliebt als jene, die noch leben. Dann hab ich es abgehängt.
    Außer der Küchenschabe sah ich Pauls Mutter, mit Grübchen in den Wangen, den einen Arm auf die linke Hüfte des Sommerkleids gestellt, den anderen um die Hüfte ihres Mannes gelegt. Pauls Vater trug eine Schirmmütze, ein kariertes Hemd, die Ärmel aufgekrempelt, weite knielange Hosen, wadenhohe Socken in Sandalen. Den einen Arm hatte er um die Schulter seiner Frau gelegt, den anderen auf die rechte Hüfte gestellt. Beide gleich groß, aneinander gedrückt, ihre Arme in den Hüften wie zwei Henkel. Über aneinander gelehnte Wangen machte ich mir damals noch keine Gedanken. Vor den Eltern einer der ersten Kinderwagen mit Rolläden, die man schließen konnte. Die auf dem Bild waren offen, und im Wagen saß Paul, den gestärkten Schirm seiner Haube wie eine Mondsichel über der Stirn, eine Schleife unterm Kinn, sie hing ihm auf den Bauch. Das linke Ohr aus der Haube herausgebogen. Er streckte eine Hand mit einer Spielzeugschaufel hoch. Und aus dem Wagen hing, ans Fußende gestrampelt, die Decke. Hinter der Familie ein Hügel, weißblühende Pflaumenbäume und ganz oben das metallurigische Kombinat, unscharf wie der Rauch aus den Schloten. Die Arbeiterfamilie im Glück der Industrie, ein Bild für die Zeitung. Da mußte ich Paul am Tisch in der Sonne von meinem parfümierten Schwiegervater auf dem weißen Pferd erzählen, das Bild war auch aus den fünfziger Jahren.
    Dein Vater ist ganz anders als der auf dem Schimmel, sagte ich, und doch sind beide Kommunisten. Der eine am Hochofen in der Stadt, der andere mit glänzenden Reiterstiefeln durch Dorfstraßen. Einer schuftet und hält den glühenden Stahl höher als seinen Verstand, der andere reitet, treibt Leute in die Enge und riecht nach Parfüm.
    Auf meiner Hochzeit tanzte mein Opa nur einen Walzer mit mir. Er drückte seinen Mund an mein Ohr und sagte: Schon 1951 stank dieser Hund nach Parfüm, so einer kommt uns in die Familie. Will er seinen Spaß noch mal mit uns, will er. Will er hier essen mit uns, will er. Na gut, dann kriegt er seinen Ehrenteller. Für den hab ich was zuhaus, dem tu ich Gift ins Essen. Wie ruhig er das sagen, wie leicht er atmen und den Takt im Walzer halten konnte, wie einer, der tut, was er sagt. Außen wiegte sich mein langes Kleid, innen war ich ein Pflock. Ein paar Mal trat er mir auf den Saum und entschuldigte sich. Ich sagte nur:
    Das macht nichts.
    Daß mir das lange Kleid zum Hals heraus hing, machte viel, daß ich mir wünschte, er möge immer drauftreten, bis ich nicht mehr drin bin. Nach dem Tanz führte er mich durch den Saal an meinen Platz zurück, ans Tischende zu meinem Mann. Drei Stühle weiter beugte sich mein Schwiegervater über die Schulter seiner Tochter, ihr Ohrgehänge war offen. Mein Opa strich mir über den Ärmel.
    Und bei dem willst du bleiben.
    Ich konnte nicht mehr fragen, ob er den Schwiegervater meint oder meinen Mann. Er ging weg durch den Saal, er meinte beide. Ich suchte ihn mit den Augen. Mein Mann zog meine Hand zu sich, damit sich meine Augen auch zu ihm drehen. Und als meine Augen da waren und die Finger zwischen seinen Händen auf der schwarzen Hose lagen, war mir, als streckte sich der weiße Ärmel in die Ferne. Um so mehr wollte ich, daß er die Finger immer behält und mit

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