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Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Titel: Heute wär ich mir lieber nicht begegnet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Müller
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Vogelkopf noch Geduld haben wird mit mir. Ob er nicht böse wird, weil seine Haut zerreißt, wenn er sich aufregt.
    Die verwilderte Einsamkeit war bestimmt nicht das Richtige für mich. Aber was ich mit Nelu hatte war ein Schlamassel, ich tappte in seinen Haß. Nelu und ich fuhren für zehn Tage auf Dienstreise in eine Kleinstadt zwischen Donau und Karpaten. Er war für diese Reise vorgesehen und konnte sich aussuchen, mit wem er fahren möchte und hat mich vorgeschlagen. Mir war es recht, ein bißchen zu verreisen. Unter der Knopfzentrale, wie die Kleinstadt in der Fabrik hieß, stellte ich mir nichts Verlockendes vor, aber noch weniger diese Ödnis aus zehn Reihen dreckiger Häuser, umgeben von grasüberwucherten Betonfertigteilen und Baugruben, wo nichts gebaut und nichts weggeräumt wurde. Wegen der größten Knopffabrik des Landes wurde der Ort nicht Dorf genannt. Eine drei Kilometer lange geschlängelte Asphaltstraße lief vom Hotel zum Fabriktor durch ein Brennesselfeld. Der Wind, schwarzgrün ging es auf und zu, als müßte man schwimmen. Frühmorgens gingen wir auf dieser Straße, die sich immer verlor und wieder begann. Ich hätte mich auch am neunten Tag noch verirrt, die Brennesseln reichten uns über den Kopf. Nelu war nicht zum ersten Mal hier, er kannte sich in den Brennesseln aus wie in der Knopffabrik. Unsere Schuhe waren verdreckt von Staub und Tau. Um acht putzten wir sie vor dem Tor mit Nelus Taschentuch und liefen dann mit Listen und Stoffmustern zwischen Büros und Abteilungen umher. Nachmittags um fünf hatte ich mich blind geschaut an den Knöpfen aus Plastik, Perlmutt, Horn, Zwirn mit zwei, drei, vier Löchern und an den leinen- und samtüberzogenen Knöpfen mit Stielen. In diesen Mengen lagen die Knöpfe wie Pillen in einer Medikamentenfabrik. Man hätte sie zum Einnehmen, zum Beispiel drei Mal täglich nach dem Essen, in Schachteln packen und den Apotheken schicken sollen, nicht den Konfektionsfabriken zum Annähen. Nachmittags war die Brennesselstraße genauso schwarzgrün wie am Morgen. Der Tau war getrocknet, der Staub weiß. Es schrien Vögel, wer weiß von wo, in der Luft waren keine. Auf dem Rückweg zum Hotel sprachen wir über Saisonknöpfe, Preise und Liefertermine.
    Aus den vorderen Zimmern des Hotels sah man den roten einstöckigen Bahnhof. An einem Pflock neben den Schienen weidete eine weiße Ziege. Im Kreis ihres Stricks fraß sie blaue Wegwarten und versengtes Gras. Oder stand nur da und schaute den Schienen nach. Die Nacht schluckte den Boden, den Pflock und den Strick. Die Ziege allein blieb ein schimmernder Fleck. Und weit oben am Giebel leuchtete das Zifferblatt der Bahnhofsuhr.
    Ich schaute nun schon die zweite Nacht aus dem Bett hinüber auf die Uhr. Güterzüge rollten quer durch den Himmel, an Schlaf war gar nicht zu denken. Vom ersten Tag an war die Zeit hier dienstlich, auch die mit Zügen vollgestopfte Nacht. Wenn gerade kein Zug fuhr, war der Flur voll Gepolter und Männerstimmen, und alle sprachen Russisch. Schon die zweite Nacht hatte ich mir für jeden Fall die Blumenvase aus schwerem, geschliffenem Kristall unters Kissen gelegt. Das Leitungswasser schmeckte nach Chlor und der Chlor nach Schlaf, den ich vermißte. Ich trank ohne Durst, nur weil man dafür aufstehen und sich wieder hinlegen mußte. Abends aßen wir im Restaurant. Neben unserem runden Tisch stand ein langer Festtagstisch an der Wand. Um ihn herum zählte ich vierunddreißig kleine Männer mit breiten Backenknochen, nachtschwarzen Augen und Haaren, in Sommeranzügen aus grauem Tuch und weißen, kragenlosen Hemden.
    Sie wollen halt abends an einem Tisch sitzen, sagte der Kellner, um zu beraten, wie man im Reiten pißt und mit der Sichel Knöpfe annäht. Eine Delegation aus Aserbaidschan, schon eine Woche auf Erfahrungsaustausch hier in der Knopffabrik und dann noch eine Woche drauf auf Freundschaftsbesuch.
    Wo, fragte ich.
    Auch in der Knopffabrik, sagte er und zwinkerte mit dem Auge. Dabei hat der Freundschaftsbesuch schon am ersten Tag angefangen. Seit die hier sind, kommen nach Mitternacht fünf Mädchen aus der Knopffabrik in die hinteren Zimmer im Parterre. Vor den Türen gibts Gedränge und dahinter ein Gejammer wie der Dudelsack. Wenn man das hört, rutscht man schon aus. Einer rotzt sich leer, der andere steigt drauf Da kommt Nachwuchs ins Städtchen, das sage ich Ihnen, verrotzte, flachnasige Halbasiaten werden das.
    Es sprach immer nur ein und derselbe an dem langen Tisch, rauhe, schnelle

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